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ist keine Vorderseite an den Häusern geschlossen, alles mündet unmittelbar auf die Straße. Die Menschenmenge ist besonders an Regentagen sehr zahlreich dort.

Hier gingen wir oft spazieren und setzten uns auf die erhöhten Fußsteige neben der Straße, die die Magazine einfassen. Sofort wurden wir auch der Mittelpunkt einer Menschenmenge; die ersten, die uns ihrer Aufmerksamkeit würdigten, waren selbstverständlich die Straßenjungen, die hier einen Handel mit alten Münzen treiben. Nach ihnen kam der eine und andere Kaufmann und lud uns ein, sein Geschäft zu besuchen, „wo wir zweifellos tausend Gegenstände zu unserer Bequemlichkeit finden würden.“ Da wir für den Augenblick nichts Besseres zu thun wußten, so folgten wir gewöhnlich dem Bittsteller. Der Kerl mußte sehr ungeschickt sein, wenn es ihm nach stundenlanger Unterhaltung nicht gelang, unsere Börsen zu Gunsten seiner Kasse zu erleichtern. Man kauft aber auch mit Freude, wenn man vor seinen Augen die herrlichen Werke der Niellierkunst entstehen sieht, oder wenn der armenische Trödler vor einem den herrlichen Mantel eines kurdischen Bey ausbreitet (wie es uns geschah) und dabei erzählt, wie der Bey sein Vermögen zum größten Teil an Stickereien vergeudet hat, so daß er schließlich gezwungen war, seine abgetragenen Kleider zu verkaufen. Der herrliche Mantel bekam in der Folge seinen Platz in meinem Gepäck.

Unser Ziel war gewöhnlich das Geschäft des berühmten Kapamadschan. Da er ein Armenier ist, wird Kapamadschan der Meister in allen Handelszweigen. Er hat seine Korrespondenten in allen Ländern, mit denen Wan in Handelsverbindung steht, in Bitlis, Erserum, in Persien und Konstantinopel. Sein großes Magazin ist allein ein Bazar. Da er auch Bankier ist, diskontierte er unsere Wechsel auf Konstantinopel mit Freude, kurz, er war stets zu unserer Verfügung – zu seinem Nutzen.[1]


Der berühmteste Ort Wans ist mit Recht die Zitadelle, die gleich einer ungeheuren Mauer die Stadt nach Norden zu schützt und senkrecht aufsteigt. Von der Stadtseite aus ist sie gänzlich unzugänglich. Die Abdachung nach Norden ist weniger schroff, bietet aber nach meinem Dafürhalten dem Ersteigen durch Sturmleitern Trotz; ihre teilweise zerfallenen Mauern würden keinen zwei oder drei Artilleriesalven widerstand leisten können.

Bequem kann man die Zitadelle nur von dem äußersten Nordwestende erreichen, von wo ein bedeckter Weg zu dem massiven Hauptturm führt.

In dem Augenblick unseres Eintreffens in Wan, wo die schon erzählten Schwierigkeiten begannen, betrachteten wir mit Wehmut die Zitadelle, wo wir nun gar keinen Zutritt mehr zu finden hoffen durften. Aber hier ist Munir Pascha Herr; es ist bereits erwähnt worden, mit welcher Liebenswürdigkeit er uns empfing; auch gab er uns sofort die weitgehendsten Befugnisse. Wir zogen jedoch, mehr aus Rücksicht auf ihn als auf uns, keinen Nutzen daraus, bevor unsere Lage nicht gehörig geordnet war.

Endlich am 1. November besuchten wir mit dem Hauptmann der Garde die Zitadelle.

  1. In der Zeit unseres Aufenthaltes in Wan war der Bazar sehr gut mit Waren gefüllt. Man fand da europäisches Leinen, Konserven und Holländer Käse. Aber von einem Jahr zum andern kann ein großer Wechsel in den Bezugsquellen des Bazars stattfinden.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/192&oldid=- (Version vom 1.8.2018)