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daß die Armenier, die in ihrer eigentlichen Heimat das moralische Übergewicht haben, der Zahl nach in der Minderheit sind. Die türkische und kurdische Bevölkerung, die seit langer Zeit gewöhnt sind zu herrschen, sind daselbst zu zahlreich, um sich ohne Kampfe einer neuen Macht zu unterwerfen, die durch ihre früheren Unterthanen repräsentiert wird.[1]

Armenisches Grabkreuz.

Blieben die Armenier in diesen unausbleiblichen Kämpfen sich selbst überlassen, so hätten sie wahrscheinlich unterliegen müssen, und die Schwierigkeiten ihrer Lage hätten nur dazu beitragen können, die orientalische Frage noch verwickelter zu gestalten.

Man kann also mit ziemlicher Sicherheit die Idee eines unabhängigen Armenien in das Reich der Träume verweisen; wenn man auch der armenischen Rasse eine glänzende Zukunft vorhersagen kann, so darf man doch mit Grund an der Reformation ihrer Nation zweifeln.

Übrigens liegt auch noch eine der größten Schwierigkeiten, die sich der Gründung eines armenischen Reiches entgegenstellen, wahrscheinlich in dem Charakter der Armenier selbst. „Ungeachtet ihrer Überlegenheit haben sie doch große Fehler, wie Uneinigkeit, Unversöhnlichkeit, Rachsucht, Neid – es sind jedesmal die Früchte und Folgen der jahrhundertelangen Sklaverei unter der mohammedanischen Herrschaft“;[2] aber man hat keine Veranlassung zu hoffen, daß dergleichen Fehler, die in das Blut übergegangen sind und deren Spuren man in der ganzen armenischen Geschichte verfolgen kann, jemals verschwinden werden.

In physischer Hinsicht ist der Armenier von Wan schwerfällig, von wenig anmutenden Formen, aber kräftig.

Verlassen wir jetzt die Gärten von Wan und ihre Bewohner, um uns zu der alten Stadt zu begeben!

  1. Die Zerstreuung der armenischen Völker läßt sich statistisch schwer feststellen. Die einen schätzen die armenische Bevölkerung auf 2½ Millionen Seelen, während andere diese Zahl verdoppeln oder verdreifachen. Mit ziemlicher Sicherheit darf man indeß annehmen, daß die Zahl der türkischen Armenier sich auf 800000 Seelen beläuft. Sie sind also in ihrem eigenen Lande in der Minderheit im Vergleich zu den mohammedanischen Völkerschaften, die sich dort niedergelassen haben und beinahe doppelt so zahlreich sind.
  2. Arzruni, Les Arméniens en Turquie, 19.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/190&oldid=- (Version vom 1.8.2018)