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Die Schwierigkeiten, mit denen wir in Wan zu kämpfen hatten, waren nicht bloß langweilig, sondern zuweilen auch gefährlich. Da wir nicht wußten, wie wir die Zeit unserer unfreiwilligen Muße ausfüllen sollten, machten wir Besuche; auf diese Weise haben wir manchen interessanten Einblick in das Leben und Treiben der Anwohner von Wan gethan. Die engsten Straßen wurden uns bekannt, und wir nahmen angenehme Erinnerungen aus manchen Häusern mit, deren Inneres sich uns bereitwillig erschloß.

Der Leser hat bereits erfahren, wie die Türken uns behandelten; doch wird es ihm nicht schwer fallen zu glauben, daß die Kehrseite der türkischen Verwaltung zuweilen ganz erbauliche Szenen enthält.

Was gewöhnlich mit dem Namen „Alte Türkei“ bezeichnet wird, bildet durchweg eine sehr sympathische Kategorie von Menschen. Diese Kategorie setzt sich aus gläubigen Muselmanen zusammen, die gewöhnlich ziemlich unwissend, zuweilen auch intolerant, gewöhnliche Alltagsmenschen sind, dabei aber loyal und mit einem nicht zu unterschätzenden Gerechtigkeitsgefühl ausgerüstet. Es hält schwer, ihre Freundschaft zu erwerben; besitzt man dieselbe aber einmal, so kann man sich auch darauf verlassen. Diese Kategorie ist hauptsächlich unter dem niedern Volke vertreten. In der Beamtenwelt ist der „Alte Türke“ selten geworden, da er der „Jungen Türkei“ den Platz hat räumen müssen.

Die „Junge Türkei“, auf der anfänglich viele Hoffnungen ruhten, ist das letzte Erzeugnis des Islams, das schon mehr mit der Zivilisation in Berührung gekommen ist.

Unsere christlichen Gesellschaften können heute noch ihre Fehler ertragen wegen des verborgenen Einflusses, den das Christentum auf die ausübt, die anscheinend weit von ihm entfernt sind, und wegen des Merkmales, den es auf unsere soziale Einrichtungen drückt. Wenn außerchristliche Nationen mit unserer Zivilisation in Berührung kommen, so bemerken sie eben das verborgene Element, das der Zivilisation Leben und Dauer verleiht, nämlich den Geist des Christentums, nicht; sie sehen nur das unvermeidliche Außere, die Schale, der Kern ist ihnen verborgen, und sie bemächtigen sich der Schale, d. h. der Fehler.

So verhält es sich auch mit der „Jungen Türkei“. Der Beamte, der zu der „Jungen Türkei“ zählt, versteht gewöhnlich etwas französisch; oft ist er auch in Europa gewesen; er besitzt einen gewissen Firnis von Unterricht, obgleich er im Grunde genommen sehr unwissend ist. Die dem Islam anhängenden Laster hat er beibehalten, die unsrigen gewöhnt er sich dazu an. Er ist genügsam, aber falsch und verdorben. Meist bildet sich der mohammedanische Glaube zum Skeptizismus um. Er sieht das alte Reich in Trümmer sinken, aber er weiß nicht, wie er für seinen Teil an der Wiederaufrichtung mithelfen soll. Stehlen und immer stehlen in dem Maße, wie sich der Kreis seiner Leidenschaften und naturgemäß auch der seiner Ausgaben vergrößert, das ist alles, wozu er fähig ist.

Einige unter ihnen, die nach ihrer Rückkehr aus Europa den unüberbrückbaren Abgrund sahen, der die europäische Zivilisation von dem Islam trennt, mußten nun eine starke Reaktion durchmachen. Sie wurden wieder fanatische Muselmanen, haben aber keinen Zug des „Alten Türken“; persönlich sind sie verdorben; aber für die Türkei sehen sie kein anderes Heil als in einem wilden Fanatismus, der

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Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/182&oldid=- (Version vom 1.8.2018)