Die Gräfin Therese Swoyschin war weitsichtig, da sie es aber womöglich vermied, vor Zeugen eine Brille aufzusetzen, ließ sie sich, wenn es anging, alle ihre Briefe von ihrer jungen Anverwandten vorlesen. Annies Hand zitterte, während sie ihrer Tante den Brief abnahm.
„Meine liebe Resi!
Es ist recht lange her, seitdem ich …“
Die Gräfin unterbrach Annie mit den Worten: „Ach, das sind Phrasen, sie schreibt zu jedem Brief ein Vorwort, hier auf der zweiten Seite nach dem ersten Absatz.“
Annie las: „Was sagst Du zu der Verlobung Zdenkos?“
„Wie?“ fragte, den Kopf vorstreckend, der Graf, der etwas schwerhörig geworden war. „Du bist heute recht undeutlich, Annie; sonst versteh’ ich dich immer.“
„Was sagst Du zu der Verlobung Zdenkos?“ wiederholte mit erhobener Stimme Annie.
„Verlobung Zdenkos!“ rief, fast aus seinem Krankenstuhl herausfahrend, der Graf. „Verlobung? Mit wem?“
„Unterbrich nicht, so wirst du’s erfahren,“ verwies ihm ärgerlich die Gräfin. Sie hatte sich in einen bunt austapezierten Strandstuhl niedergelassen, von wo aus sie ruhig den Eindruck abwartete, welchen
Ossip Schubin: Vollmondzauber. Stuttgart: J. Engelhorn, 1899, Band 2, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vollmondzauber.djvu/242&oldid=- (Version vom 1.8.2018)