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Manne, wenn er wirklich mit Herz und Seele liebt, steigen jetzt Befürchtungen auf. Der winzigste Umstand konnte vordem das Bild seiner Geliebten in seinen Augen verschönen; jetzt wird er zum Verdachtsmotiv. Aber gerade in diesen Qualen und Zweifeln entsteht die zweite „Kristallbildung“, jene gegenseitige Durchdringung imaginärer, seelischer Wonnen und substanziellen sinnlichen Genusses; sie muß viel dauerhafter sein, gerade weil die Gefahr eine größere ist.

„Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt,
Glücklich allein ist die Seele, die liebt.“

Um diese einfachen Gefühlstatsachen gruppiert sich das ganze Buch. Sie sind sein spiritus rector; aus der Liebe aus Leidenschaft, die als oberster Wert gilt, ergibt sich die Rangordnung der Liebesarten ganz von selbst. Wann wird der Liebhaber – oder die Geliebte – nach erfolgtem Siege wankelmütig werden? Wenn es nicht die Leidenschaft war, sondern Eitelkeit und Ehrgeiz, die beide Teile zusammenführten. Oder vielleicht war das ganze nur ein galantes Spiel, wie in den Tagen des ancien régime. Oder vielleicht haben nur „zwei Tiere sich verstanden“. Die Liebe aus Galanterie besitzt noch am meisten Zartgefühl und Seele; es gab einen feststehenden Ehrenkodex über Anknüpfung und Aufkündigung von Liebesbeziehungen, durch den der schwächere weibliche Teil geschützt war, und der bel esprit ist einfach eine Voraussetzung altfranzösischer Kultur. Diese Art von Liebe mit ihrer Schulung des Herzens ist also die Vorstufe grenzenloser, edler Leidenschaft und kommt unmittelbar nach ihr. Die aus Ehrgeiz und Eitelkeit steht schon eine

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite XI. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_V_011.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)