Seite:Ueber die Liebe 342.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


gehaltene Briefe, die ich ihr vor sechs Jahren geschrieben hatte, als ich mit Ihnen in Rom war, als Liebeserklärungen von mir zu zeigen.

Gegenwärtig betätigt sich Felicies Eitelkeit auf ganz neue Weise. Von Weilberg spricht sie nur in sentimentalen Redensarten aus dem dritten Bande von „Corinne“. Sie spielt die Trauer um eine große Leidenschaft, geht nicht mehr aus und trägt einfache Kleider; nur ihre vorzüglichen Diners gibt sie noch, wozu sie blöde Greise, die ehedem für geistreiche Menschen gegolten haben, und arme Teufel, die nichts zu essen haben, einladet. Schwärmerisch spricht sie vom Lord Byron, von Cabanis, von Bolivar und von Frau von Lafayette. Man beklagt sie in ihrem engen Kreise als sehr unglückliche junge Frau, und man lobt ihr großes Zartgefühl und ihren Geist. Sie selbst ist mit ihrem Schicksal leidlich zufrieden. Sie hält eben ein bürgerliches Haus von der Sorte, die Sie so verabscheuen.

Hatte ich recht, wenn ich behauptete, daß diese langweilige Erzählung Ihnen zu nichts nützt? Sie ist von Natur fad. In der Liebe aus Eitelkeit liegt alles im Wort, Wiedergegebene Worte langweilen, die kleinste Tat wirkt stärker.

Ferner glaube ich, daß Liebe aus Eitelkeit, wie Sie sie meinen, etwas anderes ist. Felicie hat einen seltenen, vielleicht einzigartigen Zug: die Erfüllung ihres weiblichen Berufes ist ihr unangenehm und es lag ihr sehr wenig daran, den Mann, den sie für ihren Liebhaber ausgab, davon zu überzeugen, daß sie ihn wirklich liebe.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_342.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)