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146.

Den Memoiren der Mrs. Hutchinson entnehme ich folgenden merkwürdigen Beweis für den Wahnsinn der Kristallbildung (I, 83):

„… Er erzählte Mr. Hutchinson die Geschichte eines Fremden, der sich vor kurzem in Richmond niedergelassen hatte, um daselbst einige Zeit zu bleiben. Bei seiner Ankunft fand er alle Welt über den eben erfolgten Tod einer Dame schmerzlich bewegt. Überall hörte er dieselbe Klage, so daß er sich schließlich nach Einzelheiten aus dem Leben dieser allgemein betrauerten Dame erkundigte. Er fand an diesen Mitteilungen ein so starkes Interesse, daß ihm gar nichts anderes mehr Freude bereitete, und bald mochte er keine andere Unterhaltung mehr anhören, verfiel in die tiefste Schwermut, suchte überall nach den Spuren der Verstorbenen, verbrachte ganze Tage in Schmerz und Tränen und starb nach wenigen Monaten vor Verzweiflung. Und diese Geschichte war buchstäblich wahr.“


147.

„Geoffroy Rudel, Prinz von Blaya, ein sehr vornehmer Herr, verliebte sich in die Prinzessin von Tripolis, ohne sie je gesehen zu haben, weil er von Pilgern, die aus Antiochia zurückkehrten, sehr viel Gutes und Ritterliches über sie vernommen hatte, und dichtete auf sie viele Lieder mit schönen Melodien und schlichten Worten. Weil er sie gern sehen wollte, nahm er an einem Kreuzzuge teil und schiffte sich ein, um zu ihr zu fahren. Unterwegs befiel ihn eine schwere Krankheit, so daß seine Begleiter schon seinen Tod erwarteten; es gelang ihnen aber, ihn halbtot in eine Herberge

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_316.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)