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in die „neue Heloise“ so viel Rhetorik gelegt hat, und weshalb man sie mit dreißig Jahren nicht mehr lesen mag.


102.

Der Einfluß des Ranges auf das Genie ist bei einem Emporkömmling stets zu verspüren. Ich erinnere an Rousseau, der sich in alle großen Damen verliebte, die ihm im Leben begegneten, und der vor Entzücken weinte, als der Herzog von L***, einer der fadesten Höflinge seiner Zeit, nach rechts anstatt nach links zu gehen geruhte, um Coindet, einen Freund Rousseaus, zu begleiten.


103.

Der größte Philosoph, den die Franzosen gehabt haben, hätte in der Einsamkeit der Alpen leben müssen, an irgend einem weltfernen Orte, und von da sein Buch nach Paris schicken, ohne selbst jemals hinzukommen. Helvetius war ein so einfacher, ehrlicher Mensch, daß gezierte und unnatürliche Leute, wie Suard, Marmontel und Diderot nicht begreifen konnten, daß er ein großer Philosoph sei. Sie verstellten sich nicht, wenn sie seine tiefe Weisheit geringschätzten. Zunächst war sie einfach, was in Frankreich eine unverzeihliche Sünde ist, und dann zeigte nur der Verfasser, aber nicht sein Buch, eine Schwäche; er legte nämlich einen sehr großen Wert auf das, was man in Frankreich „gloire“ (Berühmtheit) nennt, und wollte wie seine Zeitgenossen Balzac, Voiture und Fontenelle in Mode sein.

Rousseau hatte zu viel Empfindlichkeit und zu wenig scharfen Verstand, Buffon zu viel Ziererei mit seinem botanischen Garten und Voltaire zu viel Kindereien im

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_303.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)