Seite:Ueber die Liebe 297.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


93.

Große Seelen sind nicht leicht zu finden; sie verbergen sich. Für gewöhnlich sieht man nur ein wenig Originalität. Es gibt mehr große Seelen, als man glaubt.


94.

Alles kann man in der Einsamkeit erwerben, nur nicht Charakter.


95.

Die Einsamkeit ist zum Genusse der eigenen Seele und der Liebe nötig. Wer aber Erfolg haben will, muß die Welt kennen gelernt haben.


96.
Messe in den Tuilerien, 1811.

Bei Hoffestlichkeiten erinnern die enthüllten Busen der Damen, die sie zur Schau tragen wie die Offiziere ihre Paradeuniformen, und die doch bei allem Reiz keine Empfindungen in uns erwecken, unwillkürlich an die Szenen Aretins.

Man sieht, wie die ganze Gesellschaft aus Geldgier dem einen Manne zu gefallen sucht, man sieht eine große Menge ohne Moral und ohne Leidenschaft einmütig dasselbe Ziel verfolgen, und dies alles im Beisein sehr entblößter Frauen mit der Physiognomie der Bosheit und des sardonischen Lächelns für alles, was nicht persönlichen Vorteil bringt oder mit barem Genusse bezahlt wird. Es gibt dies eine Vorstellung vom Leben im Bagno und zerstreut alle Bedenken, welche die Tugend oder das innere Glück in einer selbstzufriedenen Seele entstehen läßt.

Mitten in diesem Wirrwarr ergreift einen das Gefühl der Vereinsamung und stimmt zarte Herzen zur Liebe.



Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_297.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)