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die sich selbst verzehrt und die hinsiecht, wenn man sie nur einen Tag zügelt. Die Ungeduld ist ihr Merkmal; gegen Unerreichbares gerät sie in Wut. Sie sieht nur die Außenseite aller Dinge, ist schnell von ihnen begeistert, sie assimiliert sie sich und deutet sie unverweilt zu gunsten der eigenen Leidenschaft.

2. Die Phantasie, die sich nur allmählich und langsam erwärmt, dann aber mit der Zeit das Äußere der Dinge nicht mehr sieht und sich schließlich nur mit ihrer Leidenschaft beschäftigt und sich von ihr nährt. Diese Art der Phantasie ist sehr wohl mit langsamem Geiste und selbst mit dem Mangel aller geistigen Fähigkeiten vereinbar. Sie ist der Beständigkeit günstig. Die Mehrzahl der jungen deutschen Mädchen, die an Liebe und Blutarmut hinsiechen, leiden an ihr. Diese traurige Geschichte ist in Italien unbekannt.


72.

Der Abbé Rousseau war (1784) ein armer junger Mensch, der von früh bis abends alle Stadtviertel ablaufen mußte, um Geschichts- und Geographiestunden zu geben. In eine seiner Schülerinnen verliebt wie Abälard in Heloïse, wie Saint-Preux in Julie, weniger glücklich, aber anscheinend nahe daran, es zu werden, mit ebenso großer Leidenschaft wie jener, aber ehrlicher, zartfühlender und vor allem mutiger, hat er sich wahrscheinlich dem Gegenstande seiner Leidenschaft geopfert.

Nachdem er in einem Restaurant des Palais Royal zu Mittag gegessen hatte, ohne sich dabei irgendwelche Unruhe oder Zerstreutheit anmerken zu lassen, schoß er sich eine Kugel durch den Kopf. In dem polizeilichen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_289.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)