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Dichter noch nicht den Mut gehabt haben, den Roman des heimatlichen Bodens zu finden. Nach den Vorschriften des Naturalismus ist doch nichts einfacher: man muß freimütig zu komponieren wagen, was einem ringsum in die Augen fällt. Ich erinnere an den Kardinal Gonzalvi, der 1822 drei Stunden lang das Libretto einer komischen Oper auf Fehler hin durchsah und aufgeregt zu dem Maëstro sagte: „Aber Sie bringen recht oft das Wort cozzar, cozzar!“


64.

Zu meinem großen Leidwesen habe ich das Venedig von 1760 nicht sehen können.[1] In diesem kleinen Zeitraume hatten sich offenbar durch mancherlei günstige Umstände die staatlichen Einrichtungen mit einer tüchtigen Lebensanschauung zum Glücke der Menschen vereinigt. Ein maßvoller Genuß gewährte allen ein leichtes Glück. Es gab keine inneren Kämpfe und keine verbrecherischen Taten. Heiterkeit lachte aus aller Mienen, niemand versuchte reicher zu erscheinen, als er war; Heuchelei war erfolglos. Ich stelle mir den damaligen Zustand als den Gegensatz zu dem des heutigen London vor.


65.

Die weisen Akademiker erkennen die Sitten eines Volkes in seiner Sprache wieder. Italien ist das Land der Welt, wo man das Wort „Liebe“ am seltensten gebraucht. Man sagt immer „amicizia“ (für „Liebe“) und „avvizinar“ (für „mit Erfolg Hof machen“).


66.

Die Gedichte des Abbé Meli in sizilianischer Mundart sind entzückende, zarte Poesien, die leider ein wenig durch ihre mythologischen Anspielungen einbüßen.



  1. [358] Über Italien vgl. Debrosses, Eustace, Sharp und Smollet.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_283.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)