Seite:Ueber die Liebe 273.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


von England konnte der Maria Stuart weder ihre Ansprüche auf den Thron noch die Vorzüge ihrer Schönheit verzeihen. Unedel setzte sie die schottische Königin, die als Schutzflehende zu ihr kam, gefangen und opferte sie ohne politisches oder gesetzliches Recht ihrer großen und doch so kleinen Eifersucht. Dabei brüstete sie sich mit ihrer Keuschheit, während sie doch die lächerlichsten Künste der Koketterie anwandte, um in einem ungeziemenden Alter noch Bewunderer und Liebhaber zu finden und zu fesseln, ohne damit weder ihr eigenes Verlangen, noch den Ehrgeiz jener Männer befriedigen zu können. Wer möchte ihr nicht jene ehrliche und offene barbarische Kaiserin vorziehen?“


38.

Aus Stolz berauben die Türken ihre Frauen alles dessen, was die Kristallbildung fördern könnte. Ich lebe seit drei Monaten unter einem Volke (England), wo man in den oberen Klassen gleichfalls aus Stolz bald auf denselben Standpunkt geraten wird.

Die Männer bezeichnen mit Schamhaftigkeit die Forderungen eines durch den Aristokratismus tollgemachten Stolzes. Niemand darf es wagen, das Schamgefühl zu verletzen. Folglich haben die geistvollen Männer, ganz wie im alten Athen, eine ausgesprochene Neigung, ihre Zuflucht bei Hetären zu suchen, das heißt bei Frauen, die durch einen Fehltritt aller Zierereien der Prüderie enthoben sind.


39.

Die Sitten in Konstantinopel zeigen die einzige Möglichkeit, die Liebe aus Leidenschaft zu töten, indem man jede Kristallbildung durch die Ungezwungenheit des Verkehrs verhindert.



Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_273.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)