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63. In der Schweiz

Ich kenne wenig so glückliche Familien, wie die des Berner Oberlandes, und doch ist es öffentlich und allgemein bekannt, daß dort die jungen Mädchen die Nächte vom Sonnabend zum Sonntag zusammen mit ihrem Geliebten verbringen. Glücklicherweise finde ich bei einem schweizer Schriftsteller (Weiß)[1] die Bestätigung dessen, was ich vier Monate hindurch mit eigenen Augen gesehen habe (1816).

„Ein biederer Bauer beklagte sich über verschiedene in seinem Weinberge angerichtete Beschädigungen, Ich fragte ihn, warum er sich keine Hunde hielte. ‚Meine Töchter würden dann niemals heiraten.‘ – Ich verstand diese Antwort nicht, und nun erzählte er mir, daß er einen so bösartigen Hund gehabt habe, daß keiner der jungen Burschen mehr durch’s Fenster einzusteigen gewagt habe.

Ein andrer Bauer, der Schulze seines Dorfes, sagte mir zum Lobe seiner Frau, daß kein andres Mädchen in der Mädchenzeit so viele junge Männer nachts bei sich gehabt habe.

Ein allgemein geachteter Oberst war einst bei einem Ritte durch das Gebirge gezwungen, die Nacht am Ende eines sehr einsamen, malerischen Tales zuzubringen. Er nahm bei dem höchsten Beamten des Ortes, einem reichen und wohlangesehenen Manne, Quartier. Bei seiner Ankunft bemerkte der Fremde ein junges Mädchen von sechzehn Jahren, ein Bild von Anmut, Frische und Einfachheit: es war die Tochter des Hauses. An demselben Abend fand ein Tanzfest statt. Der Offizier machte dem jungen Mädchen,


  1. [357] Oberst Weiß, „Principes philosophiques“, 7. Auflage, II, 245.
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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_239.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)