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„Dann werden die Frauen die Rivalinnen, nicht mehr die Genossinnen der Männer sein.“

Ja, wenn die Liebe sich durch ein Gesetz abschaffen ließe. Bis dahin wird die Liebe ihren Reiz und ihre Macht verdoppeln. Die Grundlage der Kristallbildung wird nur breiter. Der Mann wird alle seine Ideen mit der geliebten Frau genießen, die ganze Natur wird beim gemeinsamen Sehen neue Reize gewinnen, und da die Gedanken immer gewisse Schattierungen des Charakters widerspiegeln, werden sich beide besser kennen lernen und weniger Unklugheiten begehen; die Liebe wird weniger blind sein und nicht mehr so viel Unglück anstiften.

Der Wunsch zu gefallen schützt immer die Schamhaftigkeit, das Zartgefühl und die Anmut des Weibes vor irgendwelchem Einflusse der Erziehung. Die Nachtigallen kann man auch nicht lehren, im Frühling nicht zu singen.

Die Anmut der Frauen hat mit der Unwissenheit keinen Zusammenhang. Man sehe die würdigen Gattinnen der kleinstädtischen Bürger oder die Frauen der englischen Großkaufleute an. Die Geziertheit ist eine Pedanterie; denn es ist eine Pedanterie, wenn man ohne Anlaß von einem Kleide von Leroy oder von einer Romanze von Romagnesi spricht; ebenso ist es Pedanterie, wenn man gelegentlich eines Gespräches über unsere sanften Missionare den Fra Paolo und das Tridentiner Konzil anbringt. Die Pedanterie der Kleidung und des guten Tones, das Bedürfnis, über Rossini gerade die passende Redensart zu sagen, ertöten die Anmut der Pariserin. Aber sind nicht trotz der schrecklichen Folgen dieser ansteckenden Krankheit

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_224.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)