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53. Die Minnegerichte

Es hat Minnegerichte in Frankreich nachweisbar in der Zeit von 1150 bis 1200 gegeben; wahrscheinlich aber reicht ihr Dasein bis in eine viel frühere Zeit zurück.

Die Damen, die zu Minnegerichten zusammentraten, entschieden entweder über Rechtsfragen, zum Beispiel, ob die Liebe zwischen verheirateten Leuten statthaft sei, oder über besondere Fälle, die Liebende ihrem Spruch unterwarfen.[1]

Soweit ich mir über die moralische Seite dieser Rechtspflege klar werden konnte, muß man sie mit den Ehrengerichten der Marschälle von Frankreich, die Ludwig der Vierzehnte einsetzte, vergleichen.

André, Kaplan des Königs von Frankreich,[2] um 1170 schriftstellerisch tätig, erwähnt die Minnegerichte der Damen der Gascogne, der Gräfin Irmgard von Narbonne, der Königin Eleonore, der Gräfin von Flandern und der Gräfin von Champagne (1174); von letzterer erwähnt er allein neun Urteile.

Jean von Nostradamus sagt in seiner „Vie des poëtes provençaux“ (Seite 15): „Die Tenzonen waren Wortkämpfe zwischen sangeskundigen Rittern und Damen über irgend eine schöne und spitzfindige Streitfrage auf dem Gebiete der Liebe. Fälle, über die man nicht einig werden konnte, unterbreitete man zur endgültigen Entscheidung den erlauchten Damen, die diesen Disputationen vorsaßen und öffentlich in Signe, Pierrefeu, Romanin oder andernorts Minnegerichte abhielten und ihre Urteile abgaben, die sogenannten


  1. [353] Vgl. Raynouard.
  2. [353] André le Chapelain war um 1176 schriftstellerisch tätig. Man findet in der Pariser Bibliothek (Nr. 8758) ein Manuskript von Andrés Werke, das einst im Besitz von Baluze war. Das Titelblatt lautet: „Hic incipiunt capitula de arte amatoria et reprobatione amoris.“ Diesem Titel folgen eine Inhaltsangabe der Kapitel und die Worte: „Incipit liber de arte amandi et de reprobatione amoris, editus [354] et compillatus a magistro Andrea, Francorum aulae regiae capellano, ad Galterium amicum suum, cupientem in amoris exercitu militare: in quo quidem libro, cujusque gradus et ordinis mulier ab homine cujusque conditionis et status ad amorem sapientissime invitatur; et ultimo in fine ipsius libri de amoris reprobatione subjungitur.“ Crescimbeni führt in seinem „Vite de’ poeti provenzali“ unter „Percivalle Doria“ ein Manuskript aus der Bibliothek des Nicolò Bargiacchi in Florenz an und zitiert mehrere Stellen daraus. Dieses Manuskript ist eine Übersetzung der Abhandlung Andrés. Die Akademie von Crusca zählt sie unter den Werken auf, die ihr Beispiele zu ihrem „Dictionnaire“ geliefert haben. Es gibt verschiedene Ausgaben des lateinischen Originals; Friedrich Otto Menckenius erwähnt in seinen „Miscellanea Lipsiensia nova“, Leipzig, 1751, VIII, 1, Seite 545 ff, eine ganz alte Ausgabe ohne Angabe des Jahres und des Druckortes, die er für eins der allerersten Druckwerke hält: „Tractatus amoris et de amoris remedio Andreae capellani Innocentii papae quarti.“ Eine zweite Ausgabe von 1610 trägt den Titel: „Erotica seu amatoria Andreae capellani regii, vetustissimi scriptoris ad venerandum suum amicum Guualterium scripta, nunquam ante hac edita, sed saepius a multis desiderata; nunc tandem fide diversorum [355] sorum mss. codicum in publicum emissa a Dethmaro Mulhero, Dortmundae, typis Westhovianis, anno una caste et vere amanda.“ Eine dritte Ausgabe hat auf dem Titel: „Tremoniae, typis Westhovianis, anno 1614.“ André teilt sein Thema nach folgendem Plan ein: 1. Quid sit amor et unde dicatur. 2. Quis sit effectus amoris. 3. Inter quos possit esse amor. 4. Qualiter amor acquiratur, retineatur, augmentetur, minuatur, finiatur. 5. De notitia mutui amoris, et quid unus amantium agere debeat, altero fidem fallente. Jede dieser Fragen wird in mehreren Kapiteln behandelt. André läßt abwechselnd den Liebenden und die Dame sprechen. Sie macht Einwendungen, der Liebende sucht sie durch mehr oder minder feinsinnige Beweise zu widerlegen. Hier eine Stelle, wo der Verfasser den Liebenden sagen läßt: „...Sed si forte horum sermonum te perturbet obscuritas, eorum tibi sententiam indicabo. Ab antiquo igitur quattuor sunt in amore gradus distincti: Primus, in spei datione consistit. Secundus, in osculi exhibitione. Tertius, in amplexus fruitione, Quartus, in totius concessione personae finitur.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_188.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)