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Ich erinnere an eine bekannte Anekdote. Ein Troubadour hatte seine Dame verletzt. Nachdem sie ihm zwei Jahre lang nicht die geringste Hoffnung gegeben hatte, würdigte sie endlich seine zahllosen Sendungen einer Antwort und ließ ihm sagen, wenn er sich einen Fingernagel abrisse und ihr den Nagel durch fünfzig liebende und treue Cavaliere überreichen ließe, würde sie ihm vielleicht verzeihen. Der Dichter unterzog sich unverweilt dem schmerzhaften Verfahren, und fünfzig bei ihren Damen glückliche Ritter erschienen, um der beleidigten Schönen den Nagel unter allem nur möglichen Pomp zu überreichen. Das war eine ebenso eindrucksvolle Feierlichkeit, wie der Einzug eines Prinzen von Geblüt in eine Stadt des Königreiches. Der Liebende folgte im Büßergewand von weitem hinter seinem Nagel her. Nach der ganzen langen Feierlichkeit geruhte die Dame dem Dichter zu verzeihen. Er wurde wieder all der Wonnen seines früheren Glückes teilhaftig, und die Geschichte läßt die beiden noch viele glückliche Jahre zusammen verleben. Die zwei Jahre der ertragenen Ungnade beweisen eine wahre Leidenschaft, oder, wenn sie vorher nicht mit der gleichen Innigkeit vorhanden war, war sie es dadurch sicherlich geworden.

Zwanzig andere Geschichten, die ich anführen könnte, zeigen immer wieder eine liebenswürdige, geistreiche und von beiden Geschlechtern nach den Forderungen der Gerechtigkeit gepflegte Galanterie. Ich sage Galanterie, denn zu allen Zeiten ist die Liebe aus Leidenschaft eine mehr seltsame, als häufige Ausnahme gewesen, die sich keine Gesetze aufdrängen läßt. In der Provence war alles, was sonst Berechnung ist oder

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_177.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)