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Es gab eine ganz bestimmte Form, sich in eine Frau verliebt zu erklären, und ebenso eine, als Liebhaber angenommen zu werden. Nach einer gewissen Zeit vorschriftsmäßiger Huldigung war es gestattet, der Geliebten die Hand zu küssen. Die noch junge Gesellschaft gefiel sich in Förmlichkeiten und feierlichen Gebräuchen, die, damals ein Zeichen von Bildung, heute sterbenslangweilig wären. Der gleiche Charakter tritt in der provençalischen Sprache zutage, in der Künstelei und Geziertheit ihrer Verse, in den männlichen und weiblichen Wörtern für die Bezeichnung ein und desselben Gegenstandes, endlich in der auffällig großen Zahl ihrer Dichter. Alles, was in der Gesellschaft Form ist, was heute so geschmacklos erscheint, hatte damals die ganze Frische und Kraft der Neuheit.

Nach dem Handkusse rückte man Grad für Grad auf, je nach Verdienst und ohne Bevorzugung. Wohlgemerkt, wenn auch die Ehemänner nie in Frage kamen, so gab es andrerseits für die förmliche Annäherung der Liebhaber eine Grenze dicht an den Wonnen der zärtlichsten Freundschaft zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts. Erst nach mehreren Monaten oder Jahren der Prüfung, wenn eine Frau über den Charakter und die Verschwiegenheit eines Mannes völlig sicher war und dieser den Augenschein und die Vorteile der zärtlichsten Freundschaft mit ihr teilte, mochte solche Freundschaft die Tugend stark beunruhigen.

Ich sprach von Bevorzugung, das heißt, eine Frau konnte mehrere Liebhaber, jedoch nur einen ersten Liebhaber haben. Anscheinend kamen die anderen nicht viel über den Freundschaftsgrad des Handkusses und des täglichen Besuches hinaus. Alles, was uns

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_174.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)