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sich noch bemerkbar machen werden, wenn das Joch der lächerlichen Kleinstaaterei längst abgeschüttelt ist. Er kommt namentlich in dem unauslöschlichen Hasse gegen alles Ausländische zum Ausdruck.

7. Als letzten Charakterzug nenne ich die Unduldsamkeit in der Unterhaltung und die zornige Aufwallung, wenn man dem Gegner nicht sofort mit Gegenbeweisen kommen kann. Es ist dies ein Zeichen von feinster Empfindlichkeit, aber nicht von der liebenswürdigen Seite, somit etwas, das ich am liebsten als Beweis ihres Vorhandenseins gelten lasse.

Ich wollte die „ewige Liebe“ kennen lernen, und nach mancherlei Schwierigkeiten habe ich es erreicht, heute Abend dem Cavaliere C*** und seiner seit fünfundzwanzig Jahren geliebten Freundin vorgestellt zu werden. Gerührt habe ich die Loge dieses liebenswürdigen Greisenpaares wieder verlassen. Das ist die Kunst, glücklich zu sein, von der die Jugend meist nichts versteht.

Vor zwei Monaten besuchte ich Monsignor R*** in seinem Landhause, wo er mit Frau D***, seiner „avvicina“, wie man sagt, seit vierunddreißig Jahren lebt. Sie ist noch schön, aber es schwebt eine gewisse Schwermut über beiden, die man durch den Verlust eines ehedem durch den Gatten der Frau D*** vergifteten Sohnes erklärt. Hier ist Liebe etwas anderes als in Paris, wo man eine Geliebte nur alle Wochen eine Viertelstunde besucht und sonst höchstens einen Blick oder einen Händedruck von ihr erhascht. Der Liebende, der glücklich Liebende, verlebt vier bis fünf Stunden jedes einzelnen Tages mit der geliebten Frau.

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_154.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)