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Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß es der Gipfel der Lächerlichkeit wäre, dies alles auf die Liebe aus Galanterie zu übertragen.


32. Vom Vertrauen zu Freunden

Es gibt in der Welt keinen schneller bestraften Übermut, als den, eine Liebe aus Leidenschaft einem intimen Freunde anzuvertrauen. Er weiß, daß, wenn wir die Wahrheit reden, unsere Freuden die seinen tausendfach übertreffen und sie in unseren Augen verächtlich machen.

Unter Frauen ist das noch viel schlimmer, weil es das Glück ihres Lebens ist, Leidenschaften zu entfachen und die Vertraute es demselben Manne gewöhnlich schon nahegelegt hat, sie selbst zu lieben.

Andererseits gibt es für ein Wesen, das von diesem Fieber verzehrt wird, kein heftigeres geistiges Bedürfnis in der Welt, als das nach einem Freunde, mit dem man die schrecklichen, immer wieder die Seele erfüllenden Zweifel erwägen könnte; denn in dieser furchtbaren Leidenschaft ist jedes Ding der Einbildung ein Ding der Wirklichkeit.

„Ein großer Charakterfehler,“ schrieb mein unglücklicher Freund in sein Tagebuch, „ein Fehler, den Napoleon nicht hatte, liegt darin, daß ich, wenn über die Vorteile einer Leidenschaft gestritten wird und eben etwas klar bewiesen worden ist, es nicht über mich gewinnen kann, hiervon wie von einer unerschütterlichen Tatsache weiterzugehen. Unwillkürlich und zu meinem größten Nachteile komme ich immer wieder darauf zu sprechen.“


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_100.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)