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Solche Beständigkeit in stolzer Rache findet sich, glaube ich, nur in südlichen Ländern.

In Piemont war ich zufällig Zeuge einer ganz ähnlichen Tat; aber damals ahnte ich den Zusammenhang nicht. Ich war mit fünfundzwanzig Dragonern nach den Wäldern längs der Sesia geschickt worden, um Schmuggeleien nachzuspüren. Als ich gegen Abend in dieser wilden und einsamen Gegend anlangte, entdeckte ich hinter Bäumen die Ruinen eines alten Schlosses. Ich kam näher. Zu meinem größten Erstaunen war es bewohnt. Ich fand dort einen Edelmann des Landes mit finsterem Gesicht, einen Mann von sechs Fuß Höhe und vierzig Jahre alt. Mürrisch wies er mir zwei Zimmer an. Dort musizierte ich mit meinem Quartiermeister. Nach ein paar Tagen entdeckten wir, daß unser Wirt eine Frau bewachte, die wir scherzweise Camilla tauften, ohne im entferntesten den schrecklichen, wirklichen Sachverhalt zu durchschauen. Nach sechs Wochen starb sie. Mich erfaßte die traurige Neugier, die Tote im Sarge zu sehen, und ich bestach den Mönch, der bei ihr die Totenwache hielt. Gegen Mitternacht ging er unter dem Vorwande, Weihwasser zu sprengen, in die Kapelle und nahm mich mit. Ich sah dort eins jener stolzen Gesichter, die noch im Tode schön sind. Sie hatte eine große Adlernase, deren edle und zarte Linie ich nie vergessen kann. Ich verließ diesen trübseligen Ort, und erst fünf Jahre nachher, als ein Teil meines Regiments den Kaiser bei seiner Krönung zum König von Italien begleitete, erfuhr ich den Zusammenhang der ganzen Geschichte. Jener eifersüchtige Gatte, Graf ***, hatte eines Morgens am Bette seiner Frau

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_076.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)