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die Frauen gibt es nur einen einzigen Trost: die Zerstreuung.

Mein Freund Appiani, der nur in seltenen Fällen die Tugend für möglich hält, ging heute Abend mit mir auf die Gedankenjagd, Ich sprach mit ihm über dieses Kapitel, und er meinte:

„Die Seelenstärke der Eponina, die sie bekanntlich durch die heldenhafte Aufopferung bewiesen hat, mit der sie ihrem Gatten in seiner unterirdischen Höhle das Leben erhielt und ihn vor dem Wahnsinn bewahrte, würde sich bei einem friedlichen Zusammenleben in Rom in der Geschicklichkeit geäußert haben, mit der sie ihren Geliebten verheimlicht hätte.

Starke Seelen müssen eine Betätigung haben,“


25. Über das Schamgefühl

Die Frauen auf Madagaskar lassen ohne Bedenken das unverhüllt, was man hierzulande am meisten verbirgt; sie würden aber vor Scham vergehen, wenn sie ihre Arme entblößen sollten. Es ist klar, daß drei Viertel des Schamgefühls anerzogen sind. Und doch ist das Gesetz der Schamhaftigkeit vielleicht das einzige Geschenk der Kultur, das der Menschheit lediglich Glück gebracht hat.

Die Schamhaftigkeit ist das Wunderwerk der Kultur. Bei den wilden und halbbarbarischen Völkern gibt es nur Liebe aus Sinnlichkeit, und zwar gröbster Art. Erst die Schamhaftigkeit gesellt zu der Liebe die Phantasie und erweckt sie dadurch zum wahren Leben.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_062.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)