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Für Salviati war das Leben in Abschnitte von je vierzehn Tagen eingeteilt, deren Stimmung jedesmal durch die Färbung des Abends bestimmt wurde, an dem er die geliebte Frau sehen durfte. So war er zum Beispiel am einundzwanzigsten Mai überglücklich, und am vierten Juni ging er aus Angst vor der Versuchung, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, nicht nach Hause.

Übrigens habe ich an jenem Abend die Beobachtung gemacht, daß die Romanschreiber den Selbstmord sehr schlecht darstellen. Salviati sagte zu mir mit ruhiger Miene: „Ich bin durstig, ich muß ein Glas Wasser trinken.“ Ich kämpfte nicht gegen sein Vorhaben an, sondern sagte ihm Lebewohl. Da fing er an zu weinen.

Da die ganze Unterhaltung zweier Liebenden von Unruhe erfüllt ist, so wäre es unklug, voreilige Folgerungen aus einer Einzelheit derselben zu ziehen. Nur in unerwarteten Ausbrüchen zeigen sich unverhüllte Empfindungen, sie sind die Stimme des Herzens. Höchstens kann man aus dem Gesamteindruck aller Reden irgend etwas folgern. Man muß aber bedenken, daß wir selbst in der höchsten Erregtheit meistens nicht die Zeit finden, die Erregung einer anderen Person zu beobachten, zumal wenn diese die Erregerin der unsrigen ist.


24. Vom ersten Eindruck

Ich bin oft voller Bewunderung über die Feinheit und die Sicherheit im Urteile, mit denen Frauen gewisse kleine Züge erfassen, aber einen Augenblick später

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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_059.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)