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Gatten einzuladen, mit denen sie auf freundschaftlichem Fuße steht. Welcher Gegensatz!

Eine einzige Scheidung, die einen Ehemann für seine Tyrannei bestraft, verhindert tausend schlechte Ehen. Scherzhaft ist es, daß in Rom die meisten getrennten Ehen zu finden sind.

Die Liebe sucht am Manne einen Gesichtsausdruck, der auf den ersten Blick zu Achtung und Anteilnahme zwingt.


21. Vom Vorurteil

Sehr feinfühlige Seelen sind überaus empfänglich für Neugierde und Vorurteile. Am meisten bemerkbar ist das an Menschen, in denen das heilige Feuer, die Quelle der Leidenschaften, erloschen ist. Das ist eins der traurigsten Zeichen. Voreingenommenheit hegen auch Abiturienten, die ins Leben treten. An beiden Gegenpolen des Lebens, sowohl bei zu viel als bei zu wenig Empfänglichkeit, ist man nicht natürlich genug, um den wahren Wert der Dinge herauszufühlen und den richtigen Eindruck zu gewinnen, den sie geben müssen. Die feurigen, übertrieben feurigen Seelen lieben, wenn ich so sagen darf, auf Kredit. Sie jagen den Dingen entgegen, anstatt sie auf sich zukommen zu lassen.

Ehe der Eindruck, der eine natürliche Folge der Dinge ist, bis zu ihnen gelangt, idealisieren solche Menschen die Dinge von weitem und umkleiden sie, ehe sie sie wirklich erkennen, mit einem eingebildeten Reiz, dessen unerschöpflichen Born sie in ihrem Herzen tragen. Nähern sie sich dann den Dingen, so sehen sie sie nicht, wie sie in Wirklichkeit sind, sondern so, wie

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_046.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)