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Wiedersehen mit der Justiz
Amnestie –! Amnestie –!

Es ist noch alles da.

Wenn man das drei Jahre lang nicht genossen hat: die Moabiter Justizfabrik und die unhöflichen Gerichtsdiener und diese Richterköpfe und die kleinen verschreckten Schöffen, Mikrozephalen oder Kolonialwarenhändler, und die artigen Verteidiger, die immer ein bißchen etwas vom Komplizen an sich haben, und die Angeklagten, die nicht wissen, wie ihnen geschieht – wenn man das drei Jahre lang nicht genossen hat, so darf man erfreut feststellen, daß noch alles da ist. Justitia … Ein Vormittag, und die Binde sitzt hinten.

Das letztemal stand ich vor den Talaren neben Siegfried Jacobsohn und bewunderte seine kluge Zurückhaltung und überlegene Kälte einem Geschöpf gegenüber, das einundeinehalbe Stunde, ohne Atem zu holen, sprach: da hatte das Abonnement des „Berliner Lokalanzeigers“ treffliche Früchte getragen, und die Stunde patriotischen Anschauungsunterrichts, die wir bekamen, war gratis. Und umsonst.

Was ich in letzter Zeit in Moabit und am Alexanderplatz vor den Gerichten zu sehen bekommen habe, zeigt wieder das alte Bild: die Strafen sind gar nicht einmal so grauslich, so drakonisch, so ganz und gar unsinnig, und vom Standpunkt eines Verteidigers, dem es lediglich auf das Resultat anzukommen hat, kann sich im allgemeinen der deutsche Angeklagte nicht mehr beschweren als irgendeiner seiner ausländischen Schicksalsgenossen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die deutschen Richter gut richten. Sie richten schlecht.

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Kurt Tucholsky: Mit 5 PS. Berlin: Ernst Rowohlt, 1928, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tucholsky_Mit_5_PS_109.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)