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Walther Kabel: Tschin-Fo und Tschin-Li. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zum Delmenhorster Kreisblatt, Nr. 34 , S. 270–271

Der Richter hörte ihn freundlich an und bestellte ihn für den nächsten Vormittag wieder zu sich.

Als Tschin-Fo zur bestimmten Zeit bei dem Richter erschien, fand er dort auch Liang-Sun und Tschin-Li vor. Diese brach bei seinem Anblick in Tränen aus. Aber Liang-Sun fuhr sie hart an, so daß ihre Klagen bald verstummten und sie den Totgeglaubten nicht mehr anzuschauen wagte. Der Richter fragte darauf zuerst Tschin-Fo, ob er sein Weib zurückverlange. Dieser bejahte eifrig. Nun wurde Liang-Sun gefragt, ob er Tschin-Li herausgeben wolle. Liang-Sun weigerte sich hartnäckig. Der Richter sann einen Augenblick nach und befahl dann den beiden Männern, nach zwei Tagen wiederzukommen. Er wolle sich den Fall bis dahin überlegen. Tschin-Li aber ließ er, da sie vorerst keinem von beiden angehörte, von seinen Leuten in das Gefängnis abführen. Dort sollte sie bei guter Verpflegung bis zum endgültigen Urteilsspruch bleiben.

Die Gegner stellten sich, nachdem die zwei Tage um waren, wieder vor dem Richter ein. Dieser empfing sie mit betrübter Miene und machte ihnen unter vielen Entschuldigungen die Mitteilung, daß Tschin-Li sich am Morgen im Gefängnis aus Gram erhängt habe. Er führte die beiden Männer auch bis zur Tür des Gefängnisses und zeigte ihnen den Leichnam Tschin-Lis, der in dem halbdunklen Raume noch in der Schlinge hing. Dann schloß er die Tür wieder ab und reichte Liang-Sun den Schlüssel hin.

„Du hast Tschin-Li bis zuletzt als dein Weib betrachtet. Hier nimm den Schüssel. Lasse sie abholen und gib ihr ein Begräbnis nach ihrem Verdienst.“

Aber Liang-Sun streckte die Hand nicht nach dem Schüssel aus.

„Ich habe es mir überlegt“, sagte er, „Tschin-Fo hat als ihr erster Gatte doch mehr Anrecht auf sie. Mag er sie daher auch begraben.“

Der Richter rief seinen Schreiber herbei und ließ diese Äußerung feierlich zu Papier bringen. Dann wandte er sich an Tschin-Fo.

„Tschin-Li ist nunmehr dein. Willst du sie also als ihr Gatte bestatten lassen?“

Tschin-Fo griff eilig nach dem Schlüssel. Antworten konnte er nicht. Der Schmerz machte ihn stumm.

Da befahl der Richter ihm, die Tür des Gefängnisses sofort wieder aufzuschließen. Tschin-Fo gehorchte. In der Mitte des Raumes stand Tschin-Li, lebend und gesund. Unter Freudentränen umarmte sie jetzt den geliebten, ihr wiedergegebenen Gatten.

Zu Liang-Sun aber sprach der Richter: „Du hast die Probe nicht bestanden. Meine List ist geglückt. Ich hatte alle Vorkehrungen getroffen, daß es so scheinen mußte, als ob Tschin-Li wirklich tot in der Schlinge hing. Die Tote wolltest du nicht, also gebührt dir auch nicht die Lebende.“

Tschin-Fo und Tschin-Li aber lebten in sorglosem Glück noch viele Jahre.


Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Tschin-Fo und Tschin-Li. In: Illustriertes Sonntags-Blatt. Beilage zum Delmenhorster Kreisblatt, Nr. 34 , S. 270–271. Greiner & Pfeiffer in Stuttgart, Delmenhorst 1916, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Tschin-Fo_und_Tschin-Li.pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)