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2. Kapitel.

Vor dem geschmackvoll dekorierten Schaufenster eines der besten[1] Delikatessen-Geschäfte des Berliner Westens stand ein mit etwas unmoderner Eleganz gekleideter Herr, dessen bartloses, überaus mageres Gesicht mit seltsamem Ausdruck all den teuren Leckerbissen zugewandt war, die dort hinter der dicken Fensterscheibe ihm so nah und doch so völlig unerreichbar entgegenleuchteten.

Seine grauen Augen, halb zugekniffen, scheuten sich, die fast tierische Gier zu verraten, mit der sie die einzelnen Sachen musterten: den rotbetupften Hummersalat, den großlöcherigen Schweizer Käse, die dicke Zungenwurst und all das übrige, was geeignet war, sowohl den Hunger zu stillen als auch die Nerven der Zunge anzuregen.

Der Mann, der da an diesem lauen Aprilabend mit dieser ungeheuren Bitterkeit im Herzen an ein trockenes Stück Brot als Gegensatz zu all diesen erlesenen Gaumengenüssen dachte, – an ein Stück Brot, das er sich genau so wenig kaufen konnte wie etwa dort die Büchse Sardinen, dieser schlanke, in seiner ganzen Haltung so schlaffe Mann ahnte nicht, daß vor einigen Minuten eine Dame in hellem Kostüm und kleinem schicken Hut mit Reiherstutz neben ihn getreten war und nach flüchtigem Blick, der über seine Gestalt zunächst ohne jedes Interesse hinglitt, durch den Ausdruck seines Gesichts dann sofort gefesselt wurde und nun den Schleier mit den mattgoldenen, aufgestickten Blumen

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Walther Kabel: Thomas Bruck, der Sträfling. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1923, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Thomas_Bruck,_der_Str%C3%A4fling.pdf/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)