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An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 30. Dezember 1858

 Liebste Schwester, Marie wird an Auguste ausführlich schreiben über unsere Festfeier, weshalb ich mich gegen Dich kurz fassen will, um so mehr, als die äußeren Schönheiten doch je länger je weniger Reiz für einen haben; ich freu mich wohl noch drüber, aber nimmer in dem Maße wie früher. Es ging mir in meinem bescheidenen Teile ähnlich wie Herrn Pfarrer, der vor Weihnachten einmal zu Herrn Marcius sagte: „Nicht wahr, wir Alten, wir freuen uns doch ganz anders auf Weihnachten als die Kinder; wir freuen uns darüber, daß Christus geboren ist.“ Ich wollte nur, es wäre diese Freude viel größer und ungetrübter bei mir. Herr Pfarrer lenkte in diesen Tagen unsere Gedanken u. a. auch dahin, daß wir der Einigkeit der streitenden und der triumphierenden Kirche auch in der Festfeier recht bewußt werden sollten.

 Der äußere Schmuck in unserem Hause war großenteils sehr schön; besonders kunstvoll war die Krippe arrangiert, ein wahres Meisterstück unserer ideenreichen Doris Braun, auch von Bauersleuten als solches beurteilt: „Jetzt kann ich mir’s erst recht fürstellen, grad su muß gewesen sein“, sagte eine Bauernfrau.

 Ich hab Dir neulich schon geschrieben, daß Herr Pfarrer wieder bedeutend unwohl geworden ist; er hat sich noch nicht davon erholt, und wir haben demnach in den Feiertagen viel entbehren müssen; denn obwohl er zweimal gepredigt, so war das so kurz, mit solcher Anstrengung und Mattigkeit, daß uns viel entging. ...Als ich neulich Herrn Pfarrer fragte, ob wir denn nicht bei einer andern Gelegenheit einmal hören dürften, was er uns bei der Predigt über den Jüngsten Tag schuldig geblieben (denn das ist doch keine Kleinigkeit, wenn einem so etwas vorenthalten wird), da hieß er mich hinausschauen zum Fenster und zeigte mir die dürren, aller Frische und alles Schmuckes beraubten Bäume, denen es doch kein Mensch ansähe, daß sie wieder grünen und blühen können. „So ist’s mit einer Predigt, bei der die Kraft fehlt. Da kann man ganz gut vorbereitet sein, – ich war auch gestern ganz wohl vorbereitet –, aber es fehlt die Kraft, zu sagen, was ich zu sagen hatte, und so bleibt die Predigt ein dürrer Stamm.“ Du mußt nicht denken, daß wir so gar habsüchtig sind und nicht zu fasten

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/93&oldid=- (Version vom 10.11.2016)