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Herr Pfarrer sagte letzthin: „Wenn Du so fortmachst, wirst Du bald mehr bekommen.“ Und dieses Versprechen ist schon teilweise erfüllt; denn ich habe seit einiger Zeit zwei Mädchen zur Aufsicht bekommen. Damit ist mir freilich ein gut Stück Plage zugeteilt, und ich muß gestehen, daß ich meine Pflichten da nicht immer treulich erfülle. Ich habe die Mädchen nicht zum Unterrichten, sondern soll mich bloß in ihren Freistunden mit ihnen beschäftigen, und das behagt meinem natürlichen Menschen nicht, zumal die Kinder im höchsten Grad faul und unliebenswürdig sind; doch um so besser wird es für mich sein.

 Nun noch etwas Wichtiges: heute haben wir zum ersten Male Zeichenstunden gehabt. Ich habe mich über diese Vermehrung der Lehrgegenstände sehr gefreut. Ich hoffe, Sie werden mir die Erlaubnis, das Zeichnen lernen zu dürfen, nicht verweigern; denn es soll ein sehr guter Lehrer sein; wir bekommen wöchentlich drei Stunden und sollen monatlich einen Gulden bezahlen. Das ist doch gewiß sehr billig. – Auch die Klavierstunden habe ich auf eigene Faust wieder angefangen; es ist nur, damit ich manchmal üben darf, denn die Stunde dauert nicht lange, da sich vier oder sechs Mädchen darein teilen müssen. Demnach kostet also die Stunde auch nur den vierten oder sechsten Teil. Sie werden mir nicht böse sein, liebste Mutter?

 Leben Sie recht wohl! Herzliche, innige Grüße an die lieben Geschwister! Und recht frohe Feiertage!

Ich bin Ihre dankbare Therese.


An ihre Schwester Ida.
Neuendettelsau, den 29. Dezember 1855

 Liebste Schwester, nun gehts an ein Briefschreiben bei mir, daß ich’s bald fabrikmäßig kann. Es ist recht gut, daß wir jetzt Ferien haben, sonst wüßte ich wirklich nicht, wie ich fertig werden sollte. Leider kann ich Dir nicht mehr in der seligen Weihnachtsstimmung schreiben, die mich in diesen Tagen zum glücklichsten Geschöpf auf der Welt machte; denn unser lieber, guter Herr Pfarrer ist schon wieder krank. Wir waren vorgestern abend ganz niedergeschlagen, als wir es erfuhren; erst

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/33&oldid=- (Version vom 17.10.2016)