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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 19. November 1855

 Inniggeliebte Mutter, mit inniger Freude und herzlichem Danke gegen Gott begrüße ich diesen Tag, der mich stärker und deutlicher als alle andern Tage an die großen Wohltaten des himmlischen Vaters erinnert, die er uns durch Sie, teuerste Mutter, hat zufließen lassen; der mich erinnert, wie viel, wie unendlich viel Sie an mir getan haben. O daß meine Kräfte Ihnen meine Dankbarkeit zu beweisen weniger schwach wären!

 Ich muß Ihnen gleich zu Anfang dieses Briefes schreiben, daß ich nun völlig eingewöhnt bin und daß ich mich überaus glücklich fühle. Ich ärgerte mich recht über mich selbst, daß ich damals meinen Gefühlen so nachgegeben und einen Brief voll Heimweh nach Hause geschrieben. Ich werde nie mehr schreiben, wenn ich in trauriger Stimmung bin. – Doch nun muß ich Ihnen viel, viel erzählen. Heute habe ich zum ersten Male französische Stunden gegeben. Ich habe sehr liebe, kleine Mädchen bekommen, die die französische Sprache aber schon 5–6 Jahre treiben. Für die großen Anfängerinnen wie für solche, die auch schon Französisch gelernt haben, ist Emma Merz aus Greiz hier. Später soll eine Französin kommen. Wöchentlich einmal dürfen wir im Englischen Geförderten zu Herrn Pfarrer kommen und mit ihm etwas lesen. Zudem dürfen die, die sich zur Lehrerin ausbilden wollen, wöchentlich einmal des Abends zu ihm kommen, und da will er uns Unterricht in der Kunstgeschichte erteilen. O, wenn ich von den Stunden Herrn Pfarrers reden soll, da weiß ich nicht, wo anfangen und wo aufhören. Sie sind gewiß einzig in ihrer Art. Gestern habe ich mir die Predigt nachgeschrieben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welch eine süße Lust es für mich ist, wenn ich eine solche Predigt fertig vor mir liegen sehe. Ich war gestern so glücklich, die Nachtwache zu bekommen, und hatte also die schönste Gelegenheit zu schreiben.

 Seit Herr Pfarrer wieder gesund ist, ißt er alle Tage bei uns zu Mittag. Ich sage „gesund“. Ja, daß dies wirklich wahr wäre! Allein Herr Pfarrer sieht so schlecht aus und läßt manchmal selbst Äußerungen fallen, daß wirklich Grund zu ernster Besorgnis vorhanden ist. Nächsten Sonntag ist hier heiliges Abendmahl. Da wird es wieder sehr anstrengend

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/28&oldid=- (Version vom 17.10.2016)