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meinem künftigen Leben werde nötig haben. Meine einzige Hoffnung ist noch, daß vieles in Ordnung kommen wird, wenn Herr Pfarrer wieder in unserer Mitte sein wird; denn denken Sie sich, ich habe ihn noch mit keinem Auge gesehen, da er krank ist oder vielmehr krank war. Es geht jetzt gottlob so gut, daß er wahrscheinlich morgen bei uns essen wird. Ach, wenn er seine Stunden wieder beginnt, dann wird auch im ganzen Hause neues Leben beginnen.

 Ich habe schon zwei Stunden des Herrn Doktor Schilffarth beigewohnt, dessen Unterricht sehr interessant zu sein scheint. Auch mehrere Singstunden von Herrn Kantor Güttler habe ich schon gehabt. – Emma Linß gibt Unterricht in der deutschen Sprache. Über diesen Gegenstand ist, besonders von den älteren Frauenzimmern, viel gejammert worden. Ich werde immer abends von einer Schar umgeben, denen ich das Nichtverstandene noch erklären soll.

 Nun will ich Ihnen noch einiges von der Hausordnung schreiben. Wir müssen immer erst gegen 6 Uhr aufstehen, und das geht mir natürlich mit den andern Mädchen ganz leicht. Ja, ich wache immer viel früher auf, was mir gar nicht recht ist, da ich dann immer, wenn ich so allein in der finsteren Nacht wache, von dem leidigen Heimweh gequält werde. Nach dem Gebet und Frühstück geht man in den Betsaal und hat da eine halbe Stunde ganz für sich. Da gedenke ich immer meiner Lieben nah und fern, trage all meine Anliegen dem treuen Heiland vor und lese dann mit Johanna in der Bibel. Dann gibt Fräulein Rehm Katechismusstunde, und dann beginnt entweder der ärztliche Unterricht, oder man beschäftigt sich auf irgend eine andere Weise. Nachmittags ist Nähstunde, wobei ich der Fräulein Rheineck helfen muß, und wenn Herr Pfarrer wieder ganz gesund ist, haben wir von ihm Stunden. Von 4–6 Uhr ist deutsche Sprachstunde, und abends nach Tisch gibt Fräulein von Meyer, die zweite Vorsteherin, noch eine Stunde oder vielmehr eine halbe Stunde, da werden immer zwei Sprüche und etliche Liederverse gelernt. Zum Schluß versammelt sich alles im Betsaal und verrichtet kniend sein Abendgebet.

 Das Singen spielt hier eine große Rolle. Bei allen Arbeiten lassen die Mädchen ihre mitunter herrlichen Stimmen erschallen

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/24&oldid=- (Version vom 17.10.2016)