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Existenz vertauschen. Doch es ist so auch gut. Ich fahre fort in meinem Bericht an Dich. Wie froh waren wir, als endlich am Montagmorgen um 1/29 Uhr unser Zug sich von Mühlacker, an das er wie angeschmiedet schien, losreißen durfte. Wir fuhren von da nach Karlsruhe, wohin unsre Ärzte schon vorausgegangen waren, um der tödlichen Langeweile zu entfliehen. Bei Maxau fuhren wir über den Rhein. Eben als wir dahin kamen, durchbrach ein Sonnenstrahl das trübe Gewölk und ein Regenbogen wölbte sich über dem Strom des Streites. Montagabend, den 24., kamen wir in Winden, einem Dorf in der Pfalz, an. Da konnte unser Zug wieder nicht weiter, sondern mußte bis heute morgen um 2 Uhr zwischen zwei hohen Dämmen liegen bleiben. – Bis dahin schrieb ich. Da wird zum Essen gerufen. Wir steigen in den Küchenwagen, wo Schwester Karoline Reissuppe und Meerrettich gekocht hat. Während wir essen, geht plötzlich der Zug weiter. Wir fahren weiter nach Frankreich hinein. Es geht zunächst zwischen hohen Dämmen durch, in die die Franzosen Löcher gegraben haben, um womöglich die Dämme auf die durchfahrenden Eisenbahnzüge zu stürzen. Sehr freundlich! – Jetzt hält unser Zug in Hagenau. Aufs neue wölbt sich ein wunderbar schöner Regenbogen vor uns, der sechste auf unserer Reise. Nun will ich der Reihe nach erzählen: In Winden, in unserem Engpaß, wurde uns Zeit und Weile lang. Schwester Luise und ich dachten, wir gehen trotz Schmutz und Regen ein wenig spazieren und sehen, ob wir nicht etwas „erleben“. Nun ja, wir steigen auf einen Hügel und schauen, so weit wir können. Es war nichts Interessantes zu erblicken, aber ein Kirchturm stach uns in die Augen. „Auf den wollen wir zugehen“, dachten wir. Hatten wir doch auf der Welt nichts zu versäumen. Das Dörflein winkte uns immer ferner, je weiter wir gingen, und es dunkelte schon, als wir die ersten Häuser erreicht hatten. Ein Soldat stand am Eingang des Dorfes vor einer kleinen Bretterhütte und forderte uns auf da einzutreten. Wir verstanden gar nicht, was er wollte, zögerten, seinem Befehl zu gehorchen, bis er uns endlich die Hand reichte, daß wir über den Graben, der uns von ihm trennte, konnten. Dann schob er uns geschwind in das kleine Häuschen, riegelte zu und wir standen erstaunt und versteinert

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/191&oldid=- (Version vom 20.11.2016)