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fahren doch unsere Jahre dahin wie ein Geschwätz! Beinahe die Hälfte meiner Lebenszeit habe ich nun hier im lieben, lieben Dettelsau zugebracht. Wie hat mich doch Gott so überaus gnädig geführt! O, wie freue ich mich, wenn ich Ihm einmal so recht danken kann, wie ich gerne möchte! Hier geht’s noch so schlecht mit dem Danken. Wenn ich damit anfangen will, dann spüre ich, daß der Dank nicht heiß und nicht tief ist. Es ist alles oberflächliche Stümperei. Aber dort, ja dort wird es bei ewiger Übung ewig wohlgelingen.

 Über unser ganzes Leben hier ist jetzt ein trüber Schleier gelegt – durch Herrn Pfarrers Krankheit. Es geht zwar besser, am Epiphanientage ließ er sich zu unserer herzinnigen Freude wieder einmal in den Abendgottesdienst fahren; aber als er am Montag wieder einen Geschäftsbrief diktierte, bekam er keine gute Nacht darauf, und so kann man sich einer entschiedenen Besserung eigentlich doch nicht freuen. Es ist sein diesmaliger Zustand ganz anders als sonst – viel bedenklicher. Liebste Schwester, das kann man niemand sagen, was so ein Menschenherz durchzieht wie das meine, das ein solches Glück im Jammertal erfahren hat und nun dies Glück allmählich entschwinden sieht, – ich meine das Glück, speziell geleitet und geweidet zu werden auf grünen Auen und an frischen Wassern. Gott allein weiß es. Aber es gibt noch ein höheres, größeres Glück – und das entschwindet ewig nimmer. Gott Lob und Dank! Du mußt nicht denken, daß Herrn Pfarrers Zustand im allgemeinen für hoffnungslos angesehen wird. Es kommen mir nur wieder heute so trübe, bange Gedanken. Herr Pfarrer selbst spricht davon, daß er gerne Vorträge halten wolle etc.

Deine Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, 5. Sonntag n. Epiphanias 1870

 Meine liebste Mutter, ...gestern abend hält plötzlich ein Wagen vor unserm Haus. Ich wußte, daß Herr Löhe kommen wollte, aber von Mariens Nichtkommen war ich ganz fest überzeugt. Dennoch gehe ich hinaus und rufe, wer da sei. „Ein Mensch“, antwortet’s, und richtig, sie war’s, nämlich meine jüngste Schwester Marie. Wir sitzen miteinander im Stüblein. Wenn Du nur auch dabei wärest!

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/186&oldid=- (Version vom 20.11.2016)