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Kranken – ich möchte sie so recht innig lieben als die Stellvertreter unseres Heilandes und ihnen alles tun, was ich meinem Jesus täte, wenn ich Ihn sähe und bedienen dürfte. Als ich vorigen Sonntag in dem kleinen Dörflein Haag (wohin ich schon seit Jahren öfters gehe) von einem Krankenbett zum andern ging und mit einer jungen Sterbenden so einfach über Tod und Ewigkeit reden durfte, da war ich so glücklich, daß Du Dich auch gefreut hättest, wenn Du’s gesehen...

Deine dankbare Therese.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 20. Juli 1868

 Liebe, teure Mutter, recht herzlichen Dank sage ich Dir für Deinen lieben Brief. Das ist doch nicht Dein Ernst von Amerika! Hu, mir graust’s vor Amerika. Nach Osten hin, o, da zieht’s mich gewaltig, und in Jerusalem als Diakonissin zu sterben, das ist ein Gedanke, für den ich schwärmen könnte, wenn ich nicht zu alt wäre zum Schwärmen und wenn nicht die Nüchternheit des Lebens auch meine zum Schwärmen neigende Natur längst in ihr kühles Wasser getaucht hätte. Aber ein Gedanke bewegt mich heute, den ich Dir vorlegen möchte, damit Du ihn entweder verwirfst oder dazu wirkst, daß er realisiert wird.

 Sieh, ich bin nun, nachdem ich jahrelang mich darnach gesehnt, wirklich mitten ins praktische Leben hineingestellt worden, aber nicht, wie ich’s eigentlich bedürfte, als Schülerin und Anfängerin, sondern gleich in übergeordneter Stellung. Da fühle ich nun natürlich meine Lücken und meine Schwachheit, und eine Sehnsucht erwacht in mir, ein wenig mehr zu verstehen, um doch meinen Posten besser ausfüllen zu können. Mein Beruf stellt mich vornehmlich unter die Kranken, und doch habe ich nie Kranken persönlich so recht gedient. Da möchte ich nun so gerne nur auf ein paar Wochen in ein Hospital gehen, wo die Krankenpflege gerade in besonderer Vollkommenheit geübt wird, wie z. B. im Diakonissenhaus in Berlin oder sonst irgendwo. Das erforderte aber natürlich einiges Geld. Ich habe aber nichts. Bei meinem Überlegen fielen mir jedoch die 100 fl. ein, die ich einst besessen, auf die ich dann aber verzichtet habe. Sollten sie nun

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Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/173&oldid=- (Version vom 10.11.2016)