Seite:Therese Stählin - Meine Seele erhebet den Herrn.pdf/130

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

 Am 1. Juli wurde die neue Anstalt für Sträflinge feierlich eröffnet. Ich war nie zuvor so ergriffen von den Gedanken, die damit verknüpft sind, wie gerade bei der Feier.

 Seit ein paar Tagen sind ein paar Dresdener Diakonissen unter uns. Wir freuen uns der Verbindung der beiden Anstalten.

 Es ist unser Haus nichts weniger als ein Kloster. Jeder Tag hat etwas anderes, so daß man sich fast nach einem größeren Stilleben sehnen möchte, wenigstens solange man die Stärke nicht hat, innerlich in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit zu bleiben bei den rings umher wogenden kleinen und großen Ereignissen...

 In dankbarer, kindlicher Liebe

Deine Tochter Theresia.


An die Mutter.
Neuendettelsau, den 10. August 1862

 Meine liebste Mutter, ...ich will Dir so bald wie möglich sagen, daß unsere arme Johanna endlich hat heimgehen dürfen. Vorgestern wurde sie begraben. O wie kann der Herr heimsuchen! Es war ein herber Lebensgang mit wenig Sonnenblick. Ich bin die ganzen Tage sehr angegriffen gewesen davon, ich denke heilsam ergriffen. Ich habe noch nie in solche Leidenstiefen schauen dürfen. Unzählige Male sagte mir’s Johanna auch, wie sehr sie mich bedauere, das alles miterleben zu müssen. Ich sehe das freilich nur als eine Gnade an, weil mir’s ein starker Zug mehr ist, nicht auf das Zeitliche, sondern auf das Ewige zu sehen. Johanna hat zu Dir, liebe Mutter, eine ganz besondere Liebe gehabt. Oft sprach sie mit mir davon. Und für mich war sie eine treue, besorgte Freundin, auch in ihrer Krankheit. Ich bin ihr dankbar für alles; denn ich habe auch das große Maß von Liebe, das sie mir zuwendete, nicht verdient. Ich wachte zum ersten Mal in unserem Leichenhaus bei ihrer Leiche, die so recht das Gepräge harten Kämpfens und Ringens an sich getragen. An ihren letzten Stunden hörte sie es gerne, wenn die umstehenden Diakonissen einen sanften Gesang anstimmten. Auch hatte sie ein offenes Ohr für jedes Gotteswort, das wir ihr sagten. Sie wiederholte dasselbe mühsam, bis sie zuletzt eine Äußerung tat, die uns ein

Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/130&oldid=- (Version vom 10.11.2016)