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An die Mutter.
Neuendettelsau, den 14. November 1860

 Meine liebste Mutter, ich wünsche Dir so viel, was mir diktiert wird von dem Dank, den ich Dir schuldig bin. Ich wünsche Dir noch recht viele Geburtstage, von denen immer einer fröhlicher wird als der andere. Ich denke mir, das muß so sein, daß man je älter je fröhlicher wird. Hat man doch mit jedem Jahr aufs neue eine Zeit der Mühsal hinter sich und ist ein Stück leichter geworden zum eilenden Flug zu der Ewigkeit. Ich werde Dir an Deinem Geburtstag alles erbitten, was ich denke, das Du brauchst. Ich bete überhaupt in letzter Zeit ernstlicher für Dich und unsere Angehörigen, als ich es bisher getan. Ich habe mir eine feste Regel für mein Gebetsleben gemacht, wozu auch gehört, daß ich mir eine Zeit besonders für die Fürbitten bestimmt. Und weil ich das Verlassen dieser Regel zu fürchten habe, wenn es nur mir überlassen ist, so tut mir jemand die Barmherzigkeit, mich zu mahnen und von Zeit zu Zeit meine Selbstkontrolle, die ich darüber führe, anzusehen.

 Du hast, liebe Mutter, an den Briefen, die ich Dir schreibe, ein ziemlich genaues Thermometer über mein inneres Leben. Du hast vielleicht manchmal gelächelt über die überschwenglichen Briefe, die ich in den ersten Semestern meines Hierseins geschrieben; es sind dafür dann später nüchternere gekommen, wie es ja nicht anders sein kann. Es werden ja die meisten Christen den Weg gehen, daß sie eine Zeit der ersten Liebesglut haben, dann vielleicht in ein entgegengesetztes Extrem verfallen, bis sie endlich zu der seligen Mitte einkehren. Ich sehne mich sehr nach dieser Zeit der Mitte. Was ich Dir vor einiger Zeit von meinem Wunsch, einmal von hier fortgeschickt zu werden, sagte, war dummes Zeug. Es können nicht immer die Rosen blühen, und wenn mich hier ein paar Dornen stachen, so wollte ich fort. Gott sei Dank, daß er mir meinen Willen nicht getan hat. Es gibt nichts Törichteres, als von hier selbst fort zu wollen.

Deine gehorsame Tochter Theresia Stählin.


Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Meine Seele erhebet den Herrn. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1957, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Meine_Seele_erhebet_den_Herrn.pdf/116&oldid=- (Version vom 10.11.2016)