meine Mutter stellt immer schon um halb zehn ihr Spinnrad in die Ecke; es ist gar so einsam diesen Winter, wo du nicht hier bist. Nun ist auch vorigen Sonntag der Hänfling gestorben, den du mir geschenkt hattest; ich habe sehr geweint, aber ich hab’ ihn doch immer gut gewartet. Der sang sonst immer Nachmittags, wenn die Sonne auf sein Bauer schien; du weißt, die Mutter hing oft ein Tuch über, um ihn zu geschweigen, wenn er so recht aus Kräften sang. Da ist es nun noch stiller in der Kammer, nur daß dein alter Freund Erich uns jetzt mitunter besucht. Du sagtest einmal, er sähe seinem braunen Ueberrock ähnlich. Daran muß ich nun immer denken, wenn er zur Thür hereinkommt, und es ist gar zu komisch; sag es aber nicht zur Mutter, sie wird dann leicht verdrießlich. — Rath’, was ich deiner Mutter zu Weihnachten schenke! Du räthst es nicht? Mich selber! Der Erich zeichnet mich in schwarzer Kreide; ich habe ihm schon drei Mal sitzen müssen, jedes Mal eine ganze Stunde. Es war mir recht zuwider, daß der fremde Mensch mein Gesicht so auswendig lernte. Ich wollte auch nicht, aber die Mutter redete mir zu; sie sagte, es würde der guten Frau Werner eine gar große Freude machen.
Aber du hältst nicht Wort, Reinhardt. Du hast
Theodor Storm: Sommergeschichten und Lieder. Duncker, Berlin 1851, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Theodor_Storm_Sommergeschichten_und_Lieder.djvu/72&oldid=- (Version vom 1.8.2018)