Seite:Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Von Alfred Jensen (1916).djvu/178

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Den Höhepunkt dieses Genres hat Schewtschenko, meiner Ansicht nach in der Idylle „Das Dienstmädchen“ (Nájmytschka)[1] (1845) erreicht. In einem seiner ersten poetischen Versuche (1814) hatte Alexander Puschkin eine Romanze verfaßt, wie ein Mädchen in herbstlicher Abendstunde an einen öden Ort schleicht, die heimliche Frucht einer unglücklichen Liebe in ihren Armen tragend und wie es das Knäblein auf fremder Schwelle niederlegt. So beginnt auch die idyllische Fahrt Schewtschenkos. Am frühen Morgen, als das Land noch in Nebel gehüllt ist, geht ein verlassenes Weib, um sein neugeborenes Kind fremden Leuten zu übergeben unter rührendem Abschied. Ein glücklicher Zufall fügt es, daß das Knäblein von einem alten kinderlosen Ehepaar, Trochym und Nastja, als Pflegesohn angenommen wird. Ein Jahr nachher kommt die Mutter als Dienstmädchen in das Haus, um in der Nähe des kleinen Marko zu sein und insgeheim all ihre mütterliche Zärtlichkeit ihm zu schenken. Als Marko erwachsen ist und verheiratet wird, soll Hanna, das verkleidete Dienstmädchen, an Stelle der verstorbenen Nastja die Mutter vertreten. Sie kann das nicht übers Herz bringen, sondern zieht vor, nach Kiew zu pilgern, um für ihren Sohn und seine Braut zu beten. Sie kehrt mit vielen Geschenken aus dem Kloster zurück und pflegt dann ihre Enkel. Erst am Sterbebett, als Marko von einer längern Reise als Tschumak zurückkommt, offenbart sie ihm das Geheimnis und entschläft ruhig.

Es liegt über dieser Erzählung ein eigentümlicher Schimmer (z. B. in der Schilderung der Vorbereitung zur Heirat), der bei Wiedergabe in einer andern Sprache entgleitet. Das rührende Element ist hier frei von jeder falschen Sentimentalität und der naive Ton erinnert beinahe an eine alttestamentarische Idylle. Und es ist wohl in Betracht zu ziehn, ob Schewtschenko nicht gerade in diesem


  1. Übertragen von Szpoynaronskyj. Dieser poetischen Erzählung hat Iwan Franko eine ausführliche Studie in den „Mitteilungen des Schewtschenko-Vereines“ 1895 gewidmet.