Wenn Schewtschenko nur die Balladen, die politischen Satiren und die volkstümlichen Lieder gedichtet hätte, wäre er schon unbedingt der erste Sänger der Ukraine gewesen. Aber durch seine erhabene Idealität, seine wahrhaft menschliche Gesinnung hat seine literarische Bedeutung weit außerhalb der national-sprachlichen Grenzen Fuß gefaßt und ihm einen bleibenden Platz in der Weltliteratur gesichert. Denn Taras Schewtschenko war nicht nur ein Nationaldichter, sondern auch ein universeller Geist, eine Leuchte der Menschheit.
Der Freiheitsmärtyrer, dem die Bibel von der Kindheit an die beliebteste Lektüre blieb – nicht zuletzt in der Verbannung – war vor allem eine religiöse Natur. Er wußte, daß die Liebe stärker ist als die Rache; er konnte also verzeihen – auch seinen Feinden, denn alle Menschen, besonders aber alle Leidenden, Unglücklichen sind Brüder, und auch die gefesselten Märtyrer hatten dem sterbenden Kaiser Nero verzeihen können.[1] „In den Gesprächen Schewtschenkos“ – sagt Kostomarow in seinen Memoiren vom Jahre 1876 – „spürte ich nicht dieses Übelwollen den Bedrückern gegenüber, das mitunter in seinen dichterischen Schöpfungen hervorbricht; im Gegenteil, er atmete Liebe und die Sehnsucht, alle nationalen und die sozialen Mißverständnisse auszugleichen, und er träumte von der allgemeinen Freiheit und der Verbrüderung sämtlicher Völker.“
Diese warme Religiosität hat tiefe Spuren in seinen Dichtungen hinterlassen. „Ewig lebendig“ – schreibt er –
- ↑ In dem Gedicht „Neofity“.
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/156&oldid=- (Version vom 7.10.2018)