Leben losreißen, sondern immer dem jeweiligen Momente und Gefühlszustand treu bleiben. Überall sind sie von der weiten Freiheit des kosakischen Lebens durchhaucht. Überall spürt man die Kraft und die Freude, womit der Kosak das ruhige Dasein und die Sicherheit des häuslichen Lebens verwirft, um sich ganz der Poesie der Schlachten, der Gefahren und des ausgelassenen Schmauses mit Genossen zu widmen. Weder die ganz von Liebe erfüllte und von Lebensfrische strahlende Gefährtin mit den schwarzen Augen und Augenbrauen und mit der blendenden Weiße der Zähne, den Steigbügel des Pferdes haltend, noch die hochbejahrte Mutter, Tränen wie Bäche vergießend, deren ganzes Wesen nur von mütterlichen Gefühlen beherrscht ist – nichts ist imstande, ihn zurückzuhalten … Vor seinen Augen schimmert das Schwarze Meer von Tamanj bis zur Donau – ein wilder Ozean von Blumen bewegt sich bei einem einzigen Windhauch; in die grenzenlose Tiefe des Himmels tauchen Schwäne und Kraniche; der sterbende Krieger liegt mitten in dieser frischen, jungfräulichen Natur und sammelt seine letzten Kräfte, damit er nicht sterbe, bevor er seinen Kameraden noch einen Blick geschenkt hat … Nichts kann stärker als diese nationale Musik sein, wenn das Volk poetische Empfänglichkeit, Mannigfaltigkeit und Lebenstätigkeit besitzt, wenn der Druck der Gewalt und stetiger Hindernisse ihm keinen Augenblick gestattet einzuschlafen, sondern es zum Klagen nötigt und wenn diese Beschwerden nirgendwo und nirgendwie Ausdruck finden können – ausgenommen in den Liedern.“
Schewtschenkos volkstümliche Sprache offenbart sich schon negativ in dem fast ausnahmslosen Mangel an klassischem Überbleibsel. Von „Gelehrtheit“ ist keine Spur in seinen Gedichten. Es ist allerdings wahr, daß Schewtschenko ein relativ wenig gebildeter Autodidakt war, aber bei solchen Leuten findet man erst recht einen gewissen Hang, mit oberflächlicher Belesenheit zu prahlen. Und gerade die Gründer einer modernen Literatur – man denke an Lomonosoff und Djerzhawin in Rußland oder an Muschitzki und Miljutinowitsch in Serbien! – sind oft geneigt gewesen,
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/112&oldid=- (Version vom 7.10.2018)