schwer durch fremde Zunge wiedergeben läßt. Von den vielen deutschen Schewtschenko-Übersetzungen glaube ich immerhin behaupten zu können, daß die meisten mit gewissenhafter Treue ausgeführt wurden. Die melodische Schönheit der ukrainischen Originale können diese Gedichtsproben den ausländischen Leser freilich nur ahnen lassen. Keine Übertragung kommt im Deutschen dem Urtexte gleich. Und ich glaube immerhin, daß keine der nichtslawischen Sprachen mehr geeignet ist als die deutsche, die weiche volkstümliche Lyrik Schewtschenkos in sich aufzunehmen.
Worin liegt nun die formelle Zauberkraft des „Kobsar“? Erstens liegt sie in der musikalischen slawischen Sprache selbst und zweitens in der wunderschönen ukrainischen Volkspoesie, aus welcher Quelle Schewtschenko so reichlich geschöpft hat. „In keinem andern Lande hat der Baum der Volkspoesie so herrliche Früchte getragen“, sagt Bodenstedt, und K. E. Franzos bestätigt dieses Urteil mit den Worten: „Das Volkslied der Kleinrussen ist das Beste und Schönste, was der Volksgeist geschaffen.“ Über die Verschiedenheit der russischen Volksdichtung und der ukrainischen schreibt Kostomarow: „Die historische Erinnerung geht bei den Moskowitern gleich ins Epos über und verwandelt sich in eine Dichtung, während sie dagegen in den Liedern des ukrainischen Stammes mehr Wirklichkeit enthält und es oft nicht nötig hat, diese Wirklichkeit zur Dichtung zu machen, um im Schmucke kräftiger Poesie zu glänzen.“
Da die volkspoetischen Elemente im „Kobsar“ unablässig fühlbar sind, dürfte es hier angemessen sein zu erfahren, wie der große Gogol (1833) über die ukrainischen Lieder dachte:
„Diese Volkslieder sind ein Grabdenkmal für das Verflossene, aber noch etwas mehr: ein Stein mit beredtem Relief, mit historischer Inschrift. Nichts ist mit dieser lebendigen, redenden und klingenden Chronik zu vergleichen. In dieser Beziehung ist das Volkslied für die Ukraine alles – Poesie und Geschichte und ein Grabhügel der Väter. Die ukrainischen Lieder können mit vollem Recht historisch genannt werden, weil sie sich keinen Augenblick von dem
Alfred Anton Jensen: Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Adolf Holzhausen, Wien 1916, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taras_Schewtschenko._Ein_ukrainisches_Dichterleben._Von_Alfred_Jensen_(1916).djvu/111&oldid=- (Version vom 7.10.2018)