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IV.
Volkspoetische Elemente in Schewtschenkos Dichtung.

Wenn von der ukrainischen Kunstdichtung insgesamt behauptet wird, sie sei verfeinerte Volkspoesie, dürfte dies zumindest in bezug auf Schewtschenko zutreffend sein. Seine Gedichte sind teilweise dem echten Volksliede abgelauscht und sein ureignes künstlerisches Empfinden verstand es, aus diesen Goldbarren zierliche Kleinodien zu schmieden. In der poetischen Kleinmalerei hat Schewtschenko kaum seinesgleichen in der slawischen Literatur, und die wortkarge Naivität seiner schlichten Lieder bedeutet in der Tat eine hoch entwickelte Künstlerschaft.

Es dürfte wohl nicht viele größere Dichter geben, die so wenig mannigfaltige Versmaße wie Schewtschenko gebraucht haben. Mit Reimen ist er verhältnismäßig sehr sparsam und mit künstlerischen und künstlichen Versbildungen, gleich Stanzen, Terzinen oder Sonetten, befaßte er sich gar nicht. Und doch liegt in Schewtschenkos Dichtungen eine niemals ermüdende oder einförmige rhythmische Bewegung, und der Mangel an Reimen wird reichlich durch Assonanzen, Alliterationen und abwechselndes Metrum ersetzt. Bald klingt es wie ein Flötenton, bald wie ein flehendes Singen; bald hallt die weiche Melodie in wehmütigen Schlußakkorden, bald glaubt man dumpfen Donner zu hören. Schewtschenkos Kobsa verfügt über eine Fülle von Tönen, obgleich der Saiten wenige sind. Seine Lieder erscheinen so einfach; sie sind jedoch durchaus nicht leicht in andere Sprachen zu übertragen, gleichwie das Volkslied sich nur