Seite:Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Von Alfred Jensen (1916).djvu/103

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„Beim Häuschen steht ein Weichselgarten,
drin schwärmen Käfer um die Bäum’.
Die Pflüger kehr’n mit Pflügen heim,
die Mädchen singend. Die Mütter warten
schon mit dem Abendmahl daheim.

Man sitzt beim Abendbrote eben;
da glänzt des Abendsternes Strahl.
Die Tochter reicht das Abendmahl,
die Mutter will ihr Lehren geben;
nicht läßt es zu die Nachtigall.

Die Mutter legt die Kindlein nieder,
hat sie im Freien eingewiegt,
ist selbst bei ihnen eingenickt.
Hörst Nachtigall und Mädchenlieder;
sonst Stille überm Dörfchen liegt.“[1]

Ist das nicht ein reizendes Bild einer Dorfidylle, idealisiert und doch auf realem Boden ruhend? Man fühlt den Duft der blühenden Weichselbäume, man hört die Nachtigall im lauen, stillen Vorsommerabend und man sieht die Tafelrunde vor der kleinen weißen, strohbedeckten Hütte in der Ukraine. Es ist ein Bild des Familienglückes, von dem Schewtschenko träumte, das aber dem Gefangenen versagt blieb. Allein dem Dichter kann der bloße Traum gar reichliche Entschädigung bieten, und die Dorfidylle erfüllt ihn gänzlich, auch jenseits des Kaspischen Meeres. In Orenburg (1850) träumt er:

„… Es steht am Hügel
an eines Teiches Wasserspiegel
ein Häuschen baumbekränzt und weiß
und vor dem Häuschen steht ein Greis.
Mir scheint, ich seh ihn noch – er scherzet
mit seinem Enkelkind und herzet
den kleinen, holden Lockenkopf.
Mir träumt es noch: daß auf die Schwelle
die Mutter tritt und daß sie schnelle
froh lächelnd küßt so Greis wie Kind –
und dreimal küssend an sich schmieget
sie’s Kindlein, stillt es dann und wieget


  1. Übersetzt von Szpoynarwskyj; auch von J. Virginia.