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Theodor Storm: Viola tricolor. In: Westermanns Monatshefte. 35. Jg., Nr. 210. März 1874. S. 561-576

sie fest und lange auf ihm ruhen, als müsse aus der Tiefe des Schlafes ihre Seele erst zu ihm hinaufgelangen.

„Du, Rudolf?“ sagte sie endlich. „Und ich bin noch einmal wieder aufgewacht!“

Er blickte sie an, und konnte sich nicht ersättigen an ihrem Anblick.

„Ines,“ sagte er – fast demüthig klang seine Stimme – „ich sitze hier, und stundenlang schon trage ich das Glück wie eine schwere Last auf meinem Haupte; hilf es mir tragen, Ines!“

„Rudolf! –“ Sie hatte sich mit einer kräftigen Bewegung aufgerichtet.

– „Du wirst leben, Ines!“

„Wer hat das gesagt?“

– „Dein Arzt, mein Freund; ich weiß, er hat sich nicht getäuscht.“

„Leben! O mein Gott! Leben; – für mein Kind, für dich!“ – Es war, als käme ihr plötzlich eine Erinnerung; sie schlang die Hände um den Hals ihres Mannes und drückte sein Ohr an ihren Mund. „Und für deine – für euere, unsre Nesi!“ flüsterte sie. Dann ließ sie seinen Nacken los, und seine beiden Hände ergreifend, sprach sie zu ihm sanft und liebevoll. „Mir ist so leicht!“ sagte sie. „Ich weiß gar nicht mehr, warum Alles sonst so schwer gewesen ist!“ Und ihm zunickend: „Du sollst nur sehen, Rudolf; nun kommt die gute Zeit! Aber –“ und sie hob den Kopf und brachte ihre Augen ganz dicht an die seinen – „ich muß Theil haben an deiner Vergangenheit, dein ganzes Glück mußt du mir erzählen! Und, Rudolf, ihr süßes Bild soll in dem Zimmer hängen, das uns gemeinschaftlich gehört; sie muß dabei sein, wenn du mir erzählst!“

Er sah sie an wie ein Seliger.

„Ja, Ines; sie soll dabei sein!“

„Und Nesi! Ich erzähl’ ihr wieder von ihrer Mutter, was ich von dir gehört habe; – was für ihr Alter paßt, Rudolf, nur das“ – –

Er konnte nur stumm noch nicken.

„Wo ist Nesi?“ fragte sie dann; „ich will ihr noch einen Gutenacht-Kuß geben!“

„Sie schläft, Ines“, sagte er und strich sanft mit der Hand über ihre Stirn. „Es ist ja Mitternacht!“

„Mitternacht! So mußt auch du nun schlafen! Ich aber – lache mich nicht aus, Rudolf – mich hungert; ich muß essen! Und dann, nachher, die Wiege vor mein Bett; ganz nahe, Rudolf! Dann schlaf auch ich wieder; ich fühl’s; gewiß, du kannst ganz ruhig fortgehen.“

Er blieb noch.

„Ich muß erst eine Freude haben!“ sagte er.

„Eine Freude?“

„Ja, Ines, eine ganz neue; ich will dich essen sehen!“

– „O du!“

– Und als ihm auch das geworden, trug er mit der Wärterin die Wiege vor das Bett.

„Und nun gute Nacht! Mir ist, als sollte ich noch einmal in unseren Hochzeitstag hineinschlafen.“

Sie aber wies glücklich lächelnd auf ihr Kind.

– Und bald war Alles still. Aber nicht der schwarze Todtenbaum streckte seine Zweige über das Dach des Hauses; aus fernen goldnen Aehrenfeldern nickte sanft der rote Mohn des Schlummers. Noch eine reiche Ernte stand bevor.


*       *       *

Und es war wieder Rosenzeit. – Auf dem breiten Steige des großen Gartens hielt ein lustiges Gefährte. Nero war augenscheinlich avancirt; denn nicht vor einem Puppen-, sondern vor einem wirklichen Kinderwagen stand er angeschirrt und hielt geduldig still, als Nesi an seinem mächtigen Kopfe jetzt die letzte Schnalle zuzog. Die alte Anne beugte sich zu dem Schirm des Wägelchens und zupfte an den Kissen, in denen das noch namenlose Töchterchen des Hauses mit großen offenen Augen lag; aber schon rief Nesi: „Hü hott, alter Nero!“ und in würdevollem Schritt setzte die kleine Karawane sich zu ihrer täglichen Spazierfahrt in Bewegung.

Rudolf und Ines, die schöner als je an seinem Arme hing, hatten lächelnd zugeschaut; nun gingen sie ihren eigenen Weg; seitwärts schlugen sie sich durch die Büsche entlang der Gartenmauer, und bald standen sie vor der noch immer verschlossenen Pforte. Das Gesträuch hing nicht wie sonst herab; ein Gestelle war

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Storm: Viola tricolor. In: Westermanns Monatshefte. 35. Jg., Nr. 210. März 1874. S. 561-576. Braunschweig: Westermann, 1874, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Storm_Viola_tricolor_575.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)