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obwohl ich von vornherein überzeugt bin, daß es mir nicht glücken wird, zu jener tiefen Zerknirschung zu gelangen, wie sie die Donnerworte der Kanzel erheischen. Aber bei einigem guten Willen gelingt es mir vielleicht doch noch, mich etlicher Sünden zu überführen …

Nun theilt es die Sünden in Begehrungs- und Unterlassungssünden und stellt in Beziehung auf erstere folgende Betrachtung an:

Ach, von vornherein erhebt sich eine große Schwierigkeit: Ich sinne, sinne – sinne Tag und Nacht zurück und kann absolut nicht finden, wo und wie ich gesündigt hätte. Ich bin eben ein harmloser Mensch, der mit aller Welt in Frieden lebt, des Tages seine ernste Arbeit verrichtet, des Abends sein bescheidenes Schöpplein trinkt und nach dem zweiten, höchstens dritten fromm nach Hause geht … Am besten wird es schon sein, ich klammere mich an einen bestimmten Tag an, und so nehm’ ich denn den gestrigen. Gleich nach dem Aufstehen hab’ ich zum Mokka die Zeitung gelesen – ja, allerdings, das war eine große Begehrungssünde, daß ich durch die ewigen Zolltarifs-Artikel und Debatten mir die Laune verderben ließ. Nun wird’s ein Ende haben mit dem starken Mokka und der Havanna-Cigarre wie auch mit dem Bordeauxwein und allen andern Freuden, welche einen mitteljährigen Junggesellen über die Einsamkeit seines Daseins zu trösten vermögen. An Mehreinnahmen kann bei diesen Zeiten nur ein Bismarck denken, und so wird man denn schon die Zahl der Schöpplein heruntersetzen und zu Uckermärker mit Pfälzer Deckblatt greifen müssen. In der sicheren Aussicht dieser trostlosen Zustände hab’ ich dann den Tag über, ganz gegen meine Gewohnheit, mir noch einmal recht gütlich gethan in den Genüssen, die nächstens unerschwinglich theuer sein werden, und des Abends bin ich voll düsterer Bitterkeit in’s Theater gegangen. Wehe, welcher Berg von Begehrungssünden fällt mir da ein! Ich bin ein Theaterfreund und lasse selten ein neues Stück oder einen fremden Gast aus, und wie schmählich hab’ ich nun den vergangenen Winter hindurch in mehr als 20 schlechten Stücken und mindestens einem Dutzend grausamlicher
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Adolf Stoecker: Das moderne Judenthum in Deutschland. Wiegandt und Grieben, Berlin 1880, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stoecker_Zwei_Reden.djvu/26&oldid=- (Version vom 18.8.2016)