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(8.)
Sprech mir keiner jemahls von vergeßen

Von zukünftgem schönerm größerm Glück
Von der Zeit die schwarzen [!] kan verbleichen
Ewig nicht kehrt ruhe mir zurück
Niemahls will ich mehr ein Glück erreichen
wütend will ich selbst mein Glücke mir zerstören
Sie nur liebend will ich an mein Leben zehren

So die eigene Niederschrift des Dichters, die ich wieder unberührt gelassen habe, um ganz rein die Vergleichung mit derjenigen Textgestalt zu ermöglichen, in welcher das Lied bereits in den Hinterlassenen Schriften (2, 130) erscheint. Es trägt hier die Datierung „Den 11 May 1802“ und ist einem Briefe Runges an Perthes vom folgenden Tage beigegeben, mit der Bemerkung: „um dir aber doch noch eine kleine Ergötzlichkeit zu machen, lege ich ein Gedicht bey, das in einer Reisebeschreibung in Knittelversen vorkommt, von einer Fußtour, die ich mit einigen Freunden kürzlich nach Tharand gemacht.“ Die dortige Gegend also ist es, der die Naturschilderungen des Liedes gelten. Runge selbst legte ersichtlich Wert auf dieses Gedicht, da er es, wie Perthes, ein Jahr später nun auch Reimer mitteilte. Runges ältestem Bruder Daniel hat die Reisebeschreibung noch vorgelegen; er urteilte aber (2, 463): „Sie mag unmitgetheilt bleiben, weil eine merkliche Anstrengung zur Heiterkeit, durch die Spannung in seinem Gemüth hervorgebracht, das Ganze etwas unlieblich gemacht hatte.“

Die beiden Textgestalten des Liedes weichen fast in jeder Zeile voneinander ab. Wer sie aber miteinander vergleicht, der wird mit mir der Meinung sein, daß die Textgestalt der Hinterlassenen Schriften nur aus einer nachträglichen Überarbeitung hervorgegangen sein könne. In der handschriftlichen Gestalt ist die Strophe so gebaut, daß immer fünf trochäische Fünffüßler von zwei trochäischen Sechsfüßlern beschlossen werden, ein Gesetz, das jedoch in den Strophen 2. 3. 6 insofern verletzt erscheint, als jedesmal hier die letzte Zeile nur fünf Füße hat. In den Hinterlassenen Schriften sind die beiden letzten Zeilen aber immer als fünffüßig behandelt, und gerade hier empfindet man die Gewaltsamkeit der – unursprünglichen – Änderungen; z. B. Strophe 1

O die tiefste Seel’ in diesen Tönen! –
Hoffnungslos nun all’ mein stilles Sehnen.

Nach der Handschrift redet der Dichter nicht unmittelbar die Geliebte, sondern das Bild allein, das ihm von ihr geblieben ist, im Du-Ton an: die Druckform dagegen läßt beide Anreden, an die Geliebte sowohl als an ihr Bild, nebeneinander zu und setzt an

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Zu Otto Runges Leben und Schriften. Fromme, Leipzig und Wien 1902, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Runges_Leben_und_Schriften.djvu/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)