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Im ersten Seiten-Cabinet des Gemäldesaales befinden sich Gypsabgüsse von den vorzüglichsten und am besten erhaltenen Denkmälern Griechischer Bildhauerkunst. Von Phidias und Praxiteles, oder unter ihrer Leitung gefertigt, waren letztere eine der Hauptzierden des Parthenons zu Athen.[2]


Die erste Figur

No. 71.
Theseus,

ist ein herrliches Denkmal Griechischer Kunst, und gleich vollendet an Anmuth der Gestalt, wie an Bestimmtheit der Ausführung.

In Folge der gelungenen Uebereinstimmung jedes Körpertheils wird die Harmonie nirgends unterbrochen, und der schlaffe Zustand der Muskeln des Unterleibes bringt einen bewundernswerthen Ausdruck von Ruhe hervor.

Die Genauigkeit alter Griechischer Künstler bei Behandlung einzelner, anscheinend geringfügiger Gegenstände, die aber oft jene unerklärbare Täuschung bei Betrachtung irgend einer ihrer Nachbildungen der Natur erzeugen, tritt hier sprechend hervor. So zeigt die Falte über dem Nabel deutlich, dass die abwärts gehende Bewegung der Haut an diesem festen Punkte aufgehalten wird, und die Zartheit der Behandlung macht uns für Augenblicke das Leblose der harten Masse vergessen.

Die rückwärts gebogene Lage des linken Armes, worauf die Figur sich stützt, verursacht ein Verkürzen, folglich ein Anschwellen des dreiköpfigen Muskels; letzteres ist aber so trefflich ausgeführt, dass der Muskel keineswegs hart, sondern weich und beweglich scheint.

Gleiche Erwähnung verdient hier die Genauigkeit, womit die Fortsätze des Ellbogengelenkes[3] angedeutet sind.

Das Zurücktreten des Schenkelknochens in die Hüfte (eine Folge der Spannung der Kniee), beweist die anatomischen Kenntnisse der Griechen.

Die zarten, wellenförmigen Biegungen der Schenkelmuskeln, vereint mit der regelmässigen Gestalt der Flechsen beim Einrücken in das Bein, gewähren eine genaue Ansicht jedes einzelnen Theiles, ein vollständiges Unterscheiden der Knochen von den Muskeln und eine täuschende Darstellung des Fleisches in Marmor.

Die Kniegelenke sind besonders schön, und entsprechen vollkommen der Mechanik der Natur.

Die Gestalt des linken Beines entfaltet einen herrlichen, männlichen Charakter, mit Anmuth und höchstem Ebenmasse verbunden, und die längs der Oberfläche des Beines hinlaufende Ader, beweist, dass die Griechischen Künstler die Beobachtung solcher Gegenstände als höchst nöthig für die Vollendung ihrer Werke ansahen.

Dieselbe Zeichnung der Adern sieht man in derselben Sammlung am Torso des Neptun, welcher Umstand den Beweis liefert, dass die Griechen bei Darstellung ihrer Götter dem Systeme treu blieben, dem Körper und den Gliedern der Letzteren gleiche Eigenschaften mit denen der Menschen beizulegen. Bemerkenswerth ist diese Thatsache, weil die Befolgung gedachten Systems beim Apollo und andern Werken jener Zeit wegfällt; welche Vernachlässigung von jetzigen Kennern aus dem Grunde vertheidigt wird, weil jene Gestalten Götter vorstellten, sie also frei von den gewöhnlichen Kennzeichen menschlichen Ursprungs seyn müssten.

Der Rücken dieser Figur ist ausgezeichnet schön; die Natur selbst könnte stolz seyn, ihn hervorgebracht zu haben. Die anmuthvolle Krümmung des Nackenmuskels, das zierliche Hervortreten der ersten Rückenwirbel, die ebenmässige Fülle der Schultern und die richtige Vertheilung der dazu gehörigen Muskeln, sind von bewundernswerther, schnell in’s Auge tretender Schönheit, und obgleich Steigen und Sinken der verschiedenen Massen kühn und kräftig ausgedrückt ist, so schmelzen sie doch so innig in einander, dass durchgängig die reinste Harmonie, wie nur immer die Natur sie darbietet, beobachtet wird.

Einem oberflächlichen Beobachter mögen alle diese Punkte geringfügig scheinen; aber sie beurkunden dessenungeachtet das wahre Geheimniss jener, das Leben nachahmenden Biegsamkeit, die diese unvergleichlichen Werke vor allen andern auszeichnet.

Die verstümmelten Ueberreste des Kopfes und Gesichtes sind, von der rechten Seite gesehen, noch hinlänglich, um den darin ausgedrückten edeln Charakter bemerkbar zu machen.


  1. Verbesserungen S. 49: statt allgemeinen lies: allgemein
  2. Die ganze Sammlung der allgemein[1] unter dem Namen „Elgin marbles“ bekannten, in Marmor ausgeführten Denkmäler wurde im Jahre 1816 vom Englischen Parlamente für 35,000 Lst. gekauft und im Brittischen Museum aufgestellt.
  3. Verbesserungen S. 49: lies Ellbogen