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Buch und dessen hinreißende Vorrede mich gespannt gemacht hatte. Im Sommer 1804 verließ Savigny die Universität, um eine literarische Reise nach Paris anzutreten.

Je älter man wird, desto leichter in Versuchung geräth man, die Zeit seiner Jugend in Vergleich mit dem später Erlebten zu erheben und für musterhafter zu halten. Aus den Jünglingsjahren sind wir uns der ersten Kraft und des reinsten Willens am sichersten bewußt, und es kommt uns da auch von andern überall entgegen. Ich möchte nun auch den damals unter den Marburger Studierenden waltenden Geist rühmen; es war im ganzen ein frischer, unbefangener; Wachler’s freimüthige Vorlesungen über Geschichte und Literargeschichte machten auf die Mehrzahl lebendigen Eindruck, und besonders erfreute ein Publikum, das er im großen öffentlichen Hörsaal wöchentlich las, sich eines ungetheilten Beifalls. Die Obergewalt des Staats hat seitdem merklich mehr in die Aufsicht der Schulen und Universitäten eingegriffen. Sie will sich ihrer Angestellten fast allzu ängstlich versichern und wähnt, dies durch eine Menge von zwängenden Prüfungen zu erreichen. Mir scheint es, als ob man von der Strenge solcher Ansicht in Zukunft wieder nachlassen werde. Zu geschweigen, daß sie der Freiheit des sich aufschwingenden Menschen die Flügel stutzt und einem gewissen, für die übrige Zeit des Lebens wohlthätigen, harmlosen Sich gehen lassen können, das hernach doch nicht wieder kehrt, Schranken setzt; so ist es ausgemacht, daß, wenn auch das gewöhnliche Talent meßbar seyn mag, das ungewöhnliche nur schwer gemessen werden kann, das Genie vollends gar nicht. Es entspringt also aus den vielen Studienvorschriften, wenn sie durchzusetzen sind, einförmige Regelmäßigkeit, mit welcher der Staat in schwierigen Hauptfällen doch nicht berathen ist. Wahr ist es, das ganz schlechte wird dadurch aus Schule und Universität abgewehrt, aber vielleicht wird auch das ganz gute und ausgezeichnete dadurch gehemmt und zurückgehalten. Im Durchschnitt betreten jetzt die Schüler die Akademie mit gründlicheren Kenntnissen, als vormals; aber im Durchschnitt geht dennoch daraus eine gewisse Mittelmäßigkeit der Studien hervor. Es ist alles zu viel vorausgesehn und vorausgeordnet, auch im Kopf der Studierenden. Die Arbeit des Semesters nimmt unbewußt ihre Richtung nach dem Examen; der Student muß alle Kollegia hören, worüber er Zeugnisse beizubringen hat, ohne das würde er manche nicht gehört haben, entweder weil ihn der sie vortragende Professor nicht anzieht, oder weil ihn seine Neigung anderswohin lenkt. Dagegen bleibt ihm beinahe keine Zeit übrig diejenigen zu hören, die ihm nicht vorgeschrieben

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Jacob Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Jacob_Grimm).pdf/6&oldid=- (Version vom 1.8.2018)