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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

eine Vorstellung. Wie es nicht anders sein kann, schleichen sich bei hundertjähriger, rein mündlicher Tradition Abweichungen von der Grundmelodie ein, die sich in der einzelnen Gemeinde festwurzeln. Aber trotz aller Verstöße gegen die kirchliche Tonkunst hat solch ein frischer, gewaltiger, tausendstimmiger Gemeindegesang etwas Erhebendes, und was man auch in musikalischer Hinsicht aussetzen mag, — wer hätte sie nicht lieber, die Gemeinde, die kunstlos, aber aus Herzensgrund dem Herrn ihre Lieder singt, als jene, die nur singen und spielen läßt! Selbstverständlich konnte in dem ersten Fall der Vorsänger, der hier statt der Orgel Stütze und Führer sein sollte, nur ein Mann aus der Gemeinde sein, oder wenigstens nur ein solcher, der all diese Weisen gründlich inne hatte. Die Kunst eines Fremden wäre hier ein verlorner Kampf gegen die Übermacht gewesen. Ein solches, prächtiges und unvergeßliches Exemplar dieser naturwüchsigen Gemeindevorsänger hatte sich noch bis in meine Kindheitszeit ver­erbt, ein alter, hagerer Mann, der uns Knaben gar freund­lich begegnete, wenn wir in dem Bach vor seinem „Gesinde“ krebsten. Vor Jahren mochte der gute Alte wohl auch eine kräftige Stimme gehabt und seines Amtes ohne Tadel ge­wartet haben, jetzt war sie merklich dahin, und wenn er, um dem Mangel abzuhelfen, leider ein Schlückchen mehr als nötig war, genommen batte, dann konnte er oft nicht den richtigen Ton finden oder geriet wider Willen aus einer Melodie in die andere: ja die ganze Gemeinde wäre dadurch in die heilloseste Verwirrung geraten, wenn mein Vater ihm nicht in der Rehdsen-Trine eine durchaus zuver­lässige Adjunktin gegeben und sie vorsorglich in die Kanzel­nähe postiert hätte. Diese, eine brave, wackere Frau in gesetzten Jahren, die alle Melodien noch viel fester inne hatte, als unser alter Vorsänger, sprang in solchen Momenten dem ratlosen Feldherrn mit ihrem Sopran bei, der

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/90&oldid=- (Version vom 15.9.2022)