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die Kenntnis der natürlichen Sprachen leiden, das Sprachgefühl abgestumpft, die geistige Kultur herabgedrückt werden würde.

Selbst wenn es so wäre, so würde sich doch darum die Entwicklung, durch die sich ein machtvoll hervortretendes Bedürfnis das Organ zu seiner Befriedigung schafft, ebensowenig aufhalten lassen, wie dies ähnliche Gedanken und Stimmungen beispielsweise bei Einführung der Eisenbahnen vermocht haben.

Aber wie in solchen früheren Fällen wird es sich auch hier zeigen, daß jene Befürchtungen gar nicht berechtigt sind. Wie die Eisenbahnen das Wandern nicht beseitigt, sondern vielmehr erleichtert und gefördert haben, wie die Photographie nicht die Kunst geschädigt, sondern ihr wertvolle Hilfsmittel geschaffen hat, so wird auch die Hilfssprache die aus wirklichem, sprachlichen Interesse hervorgehende Beschäftigung mit andern Sprachen nicht hemmen, sondern vielfach unterstützen.

Übrigens treten schon jetzt jene theoretischen Einwendungen in der kritischen Behandlung der Frage mehr und mehr zurück. Man beginnt sich mit der Sache selbst zu beschäftigen und speziell das Esperanto auf seine Brauchbarkeit zu prüfen. Freilich geschieht dies zunächst noch meistens ohne gründliche Kenntnis dieses Idioms und der vorliegenden Erfahrungen lediglich auf Grund vorgefaßter, theoretischer Meinungen. Man behauptet einfach, daß die Angehörigen verschiedener Nationen das Esperanto ganz verschieden aussprechen und daß sie sich daher nicht verstehen würden, man bemängelt Einzelheiten, ohne sich zu fragen, ob sie nicht ihre Rechtfertigung im Zusammenhange des ganzen Systems finden mögen, wie ein Knabe, der unbedachtsam seine Taschenuhr auseinandergenommen hat und nun verständnislos die einzelnen Teile betrachtet, um schließlich den geistreichen, von ihm zerstörten Mechanismus als etwas Unnützes zu verwerfen. Trotzdem kann auch der Esperantist mit dieser Wendung nur zufrieden sein. Eine neue Sache ist immer zuerst schiefer Beurteilung ausgesetzt; aber, wenn sie wirklich etwas taugt, so braucht sie, um durchzudringen, nur ernsthafte Beachtung. Sobald man sich mit ihr zu beschäftigen beginnt, ist ihr endlicher Sieg gesichert. Und sie hat es auch nicht zu scheuen, wenn ihr im einzelnen wirklich Mängel nachgewiesen werden sollten. Solche, von denen ja kein menschliches Werk frei ist, können, wenn man sie erst erkannt hat, beseitigt werden. Eine gründliche freimütige Kritik kann daher gerade den überzeugten Anhängern einer Sache nur erwünscht sein. Derartige Kritik ist auch von den Esperantisten selbst längst geübt worden. Dem widerspricht es nicht, daß von ihnen einmütig daran festgehalten wird, keine Änderung des Fundaments der Sprache vorzunehmen, solange diese noch nicht der allgemeinen Annahme sicher ist. Es ist dies eine im Kampf ums Dasein zweckmäßige Maßregel, deren Notwendigkeit am besten durch das Schicksal des Volapüks bewiesen wird, das vor allem durch die Uneinigkeit seiner eigenen Anhänger zugrunde gegangen ist. Freilich hatte diese Uneinigkeit ihren tieferen Grund in den Mängeln der Sprache, und es ist umgekehrt ein Beweis der innern Vorzüge des Esperanto, daß unter seinen Anhängern derartige Spaltungen nicht aufgetreten sind. Viel trägt dazu sicherlich die große Freiheit und die Entwicklungsfähigkeit bei, die das Esperanto auch bei starrem Festhalten an den Fundamentalbestimmungen noch behält.

Es kann hiernach die von Tag zu Tag zunehmende bisher durch keinen Rückschlag unterbrochene Ausdehnung und Vertiefung der Esperantobewegung nicht wundernehmen. Als äußeres Merkmal ihrer Fortschritte ist die stetig wachsende esperantische Literatur und besonders die große Zahl von Zeitschriften (es erscheinen deren jetzt schon gegen 40) hervorzuheben. Es sind dies keineswegs etwa nur kleine Blättchen, die mühsam ihr Leben fristen oder gar nach kurzem Bestehen wieder eingehen: die meisten sind inhaltreiche, nicht wenige auch äußerlich gut, zum Teil selbst vornehm ausgestattete Hefte, deren manche schon seit Jahren regelmäßig erscheinen.

Ein besonders wichtiges Ereignis ist die in Cambridge erfolgte Begründung einer wissenschaftlichen Vereinigung (Internacia Scienca Asocio), der schon jetzt über 700 Mitglieder, darunter Gelehrte von Weltruf, angehören, und die eine eigene Zeitschrift (Scienca Revuo) herausgibt. Ihr Ziel ist die Einführung des Esperanto in die wissenschaftliche Literatur und als Kongreßsprache.

Noch zwei Umstände sind zur Kennzeichnung des gegenwärtigen Standes der Entwicklung zu erwähnen. Zunächst die Tatsache, daß in letzter Zeit eine ganze Reihe von neuen Weltspracheprojekten aufgetaucht sind. Dann, was wichtiger ist, daß die »Délégation pour l’adoption d’une langue auxiliaire« nach mehrjährigen Vorarbeiten jetzt daran geht, ihre Aufgabe ernstlich in Angriff zu nehmen. Diese Körperschaft besteht aus den Vertretern von etwa 300 größeren Vereinen und Gesellschaften, die sich grundsätzlich für die Einführung einer Hilfssprache erklärt haben, ohne sich schon für eine bestimmte Sprache zu entscheiden. Das zum speziellen Studium und zur Entscheidung der Frage von der Delegation gewählte Komitee, dem aus Deutschland die Herren Prof. Förster und Prof. Ostwald angehören, ist zu seiner ersten Sitzung in Paris zusammengetreten. Da diese Körperschaft eine unparteiische Prüfung aller vorliegenden

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Schmidt: Der gegenwärtige Stand der Esperantobewegung. Bechhold, Frankfurt am Main 1908, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schmidt_Stand_der_Esperantobewegung_1908.pdf/4&oldid=- (Version vom 14.2.2021)