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Der herrliche, unermeßliche Vorteil jedoch, den die gesamte Kulturwelt durch die Benutzung einer gemeinsamen Hilfssprache erringen würde, müßte sich auf allen Gebieten des Lebens zeigen, sowohl im Handel und Verkehr, wie auf dem Gebiete der Wissenschaften und Künste, in den Werken des Friedens wie des – Krieges, der übrigens wahrscheinlich öfters seine Brandfackel nicht entzündet hätte, wenn ein klares Sichverstehen den gegeneinander ziehenden Völkern gestattet hätte, die strittigen Punkte einer ruhigen Betrachtung zu unterziehen.

Alles dies ist so unmittelbar klar und selbstverständlich, daß ich mir eine weitere Ausführung der Vorteile wohl ersparen darf, die der Kaufmann, der Reisende, der Gelehrte genießen würde, wenn überall die Kenntnis der gemeinsamen Hilfssprache verbreitet wäre.

Was will solchen Erwägungen gegenüber die immer noch gelegentlich erhobene Behauptung besagen, daß ein derartiges Hilfsmittel unnötig sei, da ja die Erfahrung zeige, daß es auch ohne ein solches gehe. Was wäre, mit diesem Maßstab gemessen, überhaupt nötig? Sind die Menschen nicht auch ohne Eisenbahnen, Telegraphen und Telephone ausgekommen, und würde das Leben nicht auch weiter gehen, wenn alle diese Dinge nicht erfunden wären?

Ebenso bedeutungslos ist der Einwurf, daß man ja eine der bestehenden nationalen Sprachen zum internationalen Verständigungsmittel erheben könne. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß sich die großen Nationen nie dazu verstehen würden, einer unter ihnen einen solchen Vorrang einzuräumen – und zwar nicht nur aus nationaler Eifersucht und nationaler Eitelkeit, wie die Verfechter jener Idee meinen, sondern auch aus wohlverstandenem politischen und wirtschaftlichen Interesse. Allerdings wird gerade von deutscher, aber eben auch nur von deutscher Seite nicht selten das Englische als Weltsprache empfohlen; indessen man braucht kein Chauvinist zu sein, um dies nicht zu wünschen. Und unsre Landsleute, die für diesen Gedanken eintreten, sind darin päpstlicher als der Papst. Die Engländer selbst zeigen ja durch den Eifer, mit dem sie das Esperanto aufgenommen haben, daß sie sich keinen Illusionen über die Aussichten ihrer eigenen Sprache auf allgemeine Einführung hingeben. In dieser Beziehung war die Beteiligung der Behörden und der Universität in Cambridge am Kongresse, waren insbesondere die von ihren Vertretern gehaltenen Ansprachen von symptomatischer Bedeutung. Und daß den Esperantisten außer der gastlichen Aufnahme durch die Stadtverwaltung von Cambridge auch die so selten und vorsichtig vergebene Ehre eines offiziellen Empfangs in der Londoner Guildhall zuteil wurde, daß der bekannte Höchstkommandierende der britischen Armee, Lord Roberts, das Ehrenpräsidium des Kongresses übernahm, geht doch weit über rein äußerliche Höflichkeitsbezeugungen hinaus. In gleicher Hinsicht verdient es Erwähnung, daß einige Vertreter der englischen Arbeitervereinigungen, vor allem der Trades Unions, den Verhandlungen des Kongresses mit lebhafter Teilnahme folgten. Übrigens waren auch die vielfach sehr umfangreichen Berichte der Presse vorwiegend im freundlichen Sinne gehalten.

Ein weiterer früher oft gemachter Vorschlag, das Lateinische wieder als internationale Gelehrtensprache einzuführen, bedarf jetzt keiner ernsthaften Widerlegung mehr. Seine eifrigsten Verfechter haben den Kampf längst aufgegeben, offenbar weil sie sich von der Unzweckmäßigkeit einer solchen Maßregel überzeugt haben. Doch ganz abgesehen davon trifft dieser Vorschlag gar nicht das Problem. Was die Gegenwart fordert, ist ein internationales Verständigungsmittel für alle Menschen, nicht ein solches für eine eng begrenzte Klasse. Wollten die Gelehrten daneben noch ein eigenes Idiom für ihren besonderen Gebrauch einführen, so könnten sie es ja ungehindert tun; aber sie würden wohl sehr bald davon zurückkommen und sich des allgemeinen Verständigungsmittels, das sie ja zum Verkehr mit Nichtgelehrten fremder Zunge doch lernen müßten, auch bei ihren wissenschaftlichen Zwecken bedienen.

So ist die Entwicklung in der Tat bereits so weit gediehen, daß es nur noch zwei Möglichkeiten gibt: – entweder die Einführung einer künstlichen Hilfssprache oder die Beibehaltung des jetzigen Zustandes, wonach jeder Mensch, der in Beziehungen zu anderssprechenden Menschen treten will oder muß, genötigt ist, eine Anzahl fremder Sprachen mit großem Zeit- und Arbeitsaufwand zu lernen, ohne doch in den meisten Fällen dabei zu einem befriedigenden Resultate zu kommen und ohne dadurch für alle Fälle gerüstet zu sein.

Und da der internationale Verkehr von Tag zu Tag wächst, da infolgedessen auch die Mißstände der Vielsprachigkeit (die sich zum Gebrauch einer einheitlichen Vermittelungssprache verhält wie der Tauschhandel zum Geldhandel) gleichfalls immer mehr zunehmen, so geht jenes »entweder – oder« in die Frage über: wann wird die künstliche Hilfssprache eingeführt werden? Daß es überhaupt einmal geschieht, ist bei der zwingenden Gewalt der äußeren Umstände nicht mehr zweifelhaft.

Dieser Macht gegenüber sind alle noch so geistreichen Erörterungen darüber, ob es möglich ist, eine Sprache künstlich zu schaffen und ob ein Kunstprodukt wie das Esperanto den Namen einer Sprache verdiene, ebenso bedeutungslos, wie die Befürchtungen, daß durch die Einführung eines künstlichen Idioms

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Schmidt: Der gegenwärtige Stand der Esperantobewegung. Bechhold, Frankfurt am Main 1908, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schmidt_Stand_der_Esperantobewegung_1908.pdf/3&oldid=- (Version vom 14.2.2021)